Die Entscheidung für diesen Monat war ganz einfach, denn im Juli 2010 habe ich nur ein einziges Buch gelesen. Oh, was habe ich mich in Szczecin, wo ich ein Praktikum absolvierte, nach Feierabend gelangweilt! War ja auch eine Schnapsidee, nur ein dünnes Buch mitzunehmen, noch dazu ein zweisprachiges auf Russisch und Französisch, wenn ich dort kein Wörterbuch zur Hand hatte. Die Entscheidung war eben völlig pragmatisch und aus Platzgründen. Das Buch hatte ich im Jahr zuvor in Paris gekauft, es bleib dann die nächsten Monate im Schrank liegen. Ich fand es eine spannende Herausforderung, in zwei Fremdsprachen gleichzeitig zu lesen, zudem wollte ich mein mehr als angestaubtes Russisch wieder etwas aufpolieren. Mit dem bisschen Schulrussisch kommt man bei Tolstoi allerdings nicht weit, die französische Übersetzung verstand ich weit besser als das Original.
Dementsprechend mühselig gestaltete sich die Lektüre in jenem heißen Sommer in einem kleinen polnischen Wohnheimzimmer (Szczecin ist übrigens richtig schön, die Stadt übertraf meine Erwartungen bei weitem). Während einer langen Zugfahrt – wie Fahrten durch Russland so sind –, erzählt ein Passagier einem anderen, warum er alle romantischen Ideale bezüglich Liebe und Ehe ablehnt: Enttäuscht und frustriert in seiner Ehe, die er eher aus einer flüchtigen Leidenschaft heraus als aus tiefgehender Liebe schließt, steigert sich seine Eifersucht immer mehr, weil seine Frau nach mehreren Schwangerschaften keine Kinder mehr bekommen darf (sexueller Kontakt also nicht mehr stattfindet) und sie gleichzeitig mit einem Geiger kokettiert, der für gemeinsame Musikstunden ins Haus kommt, bei der sie die titelgebende „Kreutzersonate“ spielen. Seine Affekte kulminieren schließlich im Mord an seiner Frau.
Es ist nicht ganz klar, worauf Tolstoi eigentlich abzielt, ob er die Ehe an sich verdammt oder nur die moderne, verdorbene Welt, in der besonders der Mann seine Triebe nicht kontrollieren kann und von ihnen in eine unglückliche Ehe getrieben wird. Wahrscheinlich beides. In dieser Phase seines Lebens predigte der Autor bereits die Enthaltsamkeit als goldenen Weg, selbst wenn er sich bewusst war, dass sich dies nur schwer verwirklichen lässt, am allerwenigsten von ihm selbst (siehe „Ein russischer Sommer“, ein Film über die letzten Jahre von Tolstoi und seiner Frau sowie die Tolstoianer-Bewegung). Der Erzähler hat durch seine Tat einen großen Ekel vor sich selbst und allen fleischlichen Begehren bekommen, er verdammt die Doppelmoral und Heuchelei von Männern und Frauen in einer Beziehung und den Zustand der Gesellschaft allgemein. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Tolstois Frau Sofja von diesem Werk sehr verletzt und angegriffen fühlte, weil sie auch in der Öffentlichkeit mit der Ehegattin der Geschichte gleichgestellt wurde. Insgesamt ein sehr deprimierendes, desillusionierendes Buch, das die Erkenntnis liefert, dass sich im Grunde nicht viel geändert hat an dem komplexen Problem „Mann und Frau“. Aber kein Sex ist vermutlich auch keine Lösung.