Dieses Buch (in einer Ausgabe von 1904) schenkte mir mein Vater zum 19. Geburtstag, mit der Widmung: „Is life really a Great Vanity Fair?“ Er war immer ganz stolz auf den Überraschungseffekt, weil das Buch auf Seidenpapier gedruckt war, also trotz seiner fast 900 Seiten gar nicht dick aussah. Ich las es dann in den Sommerferien zwischen Abitur und Studienbeginn, u. a. auch am tschechischen Kristynasee, wo ich mit Freunden zeltete. Nach der ersten Lektüre vergingen sechs Jahre, bis ich das Buch in diesem Frühling wieder zur Hand nahm (eher aus der Not heraus, weil mir der Lesestoff ausgegangen war) und fast überrascht bemerkte, dass es sogar noch besser ist, als ich es in Erinnerung hatte. Vor allem verliebte ich mich dieses Mal geradezu in William Dobbin: Nur ein stures und blindes Wesen wie Amelia kann seine unermüdliche, aufopferungsvolle Liebe erst übersehen und dann aus falschen Pflichtgefühlen zurückweisen (seine Verzweiflung ob der Vergeblichkeit seines Unterfangens und seine gleichzeitige Akzeptanz dieser Tatsache brachte mich wirklich zum Weinen). Dass sie sich am Ende doch noch kriegen, hat Amelia nicht verdient, aber man wünscht es sich um Dobbins willen, selbst wenn seine Leidenschaft zu diesem Zeitpunkt schon erschöpft ist.
Der Untertitel des Romans lautet „A Novel without a Hero“. Dies ist durchaus passend, denn einen klassischen Helden, also einen tadellosen Charakter oder zumindest eine durchgehend sympathische, „starke“ Figur, der man durch dick und dünn folgt, ist hier nicht vorhanden (abgesehen von meinem Freund Dobbin, der aber mit seinem unvorteilhaften Äußeren und seiner schüchternen, linkischen Art auch nicht zum Romanhelden taugt). Dafür haben wir es mit einer weiblichen Hauptrolle zu tun, Rebecca „Becky“ Sharp, die wahrscheinlich bei Veröffentlichung des Werks (der zunächst als Fortsetzungsroman erschien) ohne Vorgängerin war; und auch danach findet man in der Literatur selten eine so gerissene, manipulative und skrupellose „little minx“. Ihr Verhängnis ist, dass sie in einer Zeit lebt, in der Frauen noch keine Selbstständigkeit zugestanden wird, ihr Ehrgeiz also notgedrungen auf Männer gerichtet ist – ihre Intelligenz und ihr unbedingter Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg würde sie heute zu einer großen gesellschaftlichen Persönlichkeit, vielleicht einer Politikerin oder Schauspielerin (wofür sie Schönheit und Begabung hat), machen. Aber 1830 wurden solche Frauen, hatten sie erst einmal den guten Ruf verloren, gnadenlos geschnitten und fallen gelassen.

Quelle: media.web.britannica.com
Wieder einmal geht ein Mann vor Becky in die Knie
Im Gegensatz dazu ist Amelia Sedley, Beckys Schulfreundin und spätere beste Feindin, der reinste Engel. Aber ihr unschuldiges, naives Wesen führt sie in eine unglückliche Ehe, die in der Schlacht von Waterloo abrupt beendet wird, worauf sie ihr Witwendasein als Märtyrerin und Dienerin des Andenkens an ihren verstorbenen Mann versteht – der weiß Gott nicht das fleckenlose Idol war, zu dem ihre blinde Liebe ihn verklärt. Ohne den treuen Dobbin, der für seinen Freund auf das geliebte Mädchen verzichtet (weil er ihr Leiden sieht), hätte George Osbourne die kleine Emmy nicht einmal geheiratet. Ohne Waterloo hätte er sie sogar im Handumdrehen für Becky verlassen. Das erfährt aber nur der Leser, Amelia wird erst ganz zum Schluss darüber aufgeklärt. Thackeray lässt uns keine Illusionen über die Charaktere, er malt all ihre Schwächen in ihrer ganzen Tragik, sei es die eitle, selbstsüchtige Erbtante, auf deren Geld alle scharf sind, oder der alte lüsterne und verschlampte Sir Pitt, der die Gouvernante Becky heiraten will, kaum dass seine Frau im Grab liegt – nur leider hat sich diese bereits seinen Sohn geangelt. George Osbournes jähzorniger, tyrannischer Vater enterbt seinen Sohn aus Zorn über dessen unkluge Heirat mit der Tochter eines Pleitiers, besagter Amelia, und führt ein verbittertes einsames Leben, zu dem er auch seine Tochter verdammt. Amelias Mutter kann den Bankrott ihres Mannes nicht verkraften und macht der jungen Witwe das Leben schwer. Ihr Bruder Joseph ist ein eingebildeter, blasierter Geck, den Becky mit ein paar Schmeicheleien sogleich betört und der feige seine Schwester in Brüssel zurücklässt, als er vor den vermeintlich nahenden Franzosen flieht. Nein, Helden sind hier weit und breit nicht zu entdecken.
Dass das Buch trotzdem so unterhaltsam und vor allem lesenswert geworden ist, liegt zum einen an Thackerays beißender Ironie und unsentimentalem Stil. Häufig unterbricht der auktoriale Erzähler die Handlung, weist den Leser somit immer darauf hin, dass alles nur Fiktion ist. Oft vergleicht er die Akteure mit Marionetten in einem Theater, worauf sich sowohl sein Vorwort von 1848 als auch der Schlusssatz beziehen:
Come Children, let us shut up the box and the puppets, for our play is played out.
Zum anderen, wie gesagt, an dem noblen Captain Dobbin sowie an Rebecca, über deren Dreistigkeit man den Kopf schütteln kann und die man dennoch bewundern muss, ein wahres Stehaufmännchen, die am Ende immer bekommt was sie will. Die Waffen einer Frau sind in ihrem Fall wirklich „sharp“. Unter den zahlreichen Klassikern der Viktorianischen Epoche gehört „Vanity Fair“ zweifellos zu den absoluten Meisterwerken.