All modern American literature comes from one book by Mark Twain called Huckleberry Finn. American writing comes from that. There was nothing before. There has been nothing as good since.
Ernest Hemingway
Vielleicht gab es davor schon gute amerikanische Literatur (man denke an Nathaniel Hawthorne oder James Fenimore Cooper) und ganz sicher danach, aber die Würdigung von „Huckleberry Finn“ ist nichtsdestotrotz gerechtfertigt. Ich muss zugeben, dass ich Twains anderes berühmtes Werk, „Tom Sawyer“ nur einmal als Kind gelesen und zum größten Teil schon wieder vergessen habe, aber ich würde es auch eher als bloßen Jugend- und Abenteuerroman einordnen, mit Streichen, einem Verbrechen und einem Schatz – fertig. „Huckleberry Finn“ dagegen liefert, neben allen Abenteuern, vor allem ein perfektes Sittenbild der südlichen USA Mitte des 19. Jahrhunderts in all ihrer hinterwäldlerischen, bigotten, schieß- und lynchfreudigen Art (man denke sich jetzt hinzu: an der sich bis heute…). Genialerweise durch die Augen eines halbwüchsigen, unbekümmerten Jungen, der das alles noch nicht so versteht – aber doch genug, um es zu parodieren bzw. perfekt wiederzugeben und somit zu entlarven.

Dieser kleine Huck würde mal ein Hobbit werden… (Quelle)
Vielleicht liegt es daran, dass Huck Finn als Hauptfigur schon so viel interessanter ist, eine Art Proto-Hippie, der nicht in die Gesellschaft passen will oder kann. Er versucht zunächst, dem ungeliebten Leben bei der Witwe Douglas zu entkommen, die ihn „tsivilisieren“ will. So kommt ihm sein Vater gar nicht so ungelegen, der ihn in eine Blockhütte auf eine Insel im Fluss verschleppt. Dort lebt Huck zwar ohne moralische Belehrungen und lästige Pflichten, aber unter der tyrannischen Fuchtel des Alten, der im Alkoholrausch unberechenbar ist. Schließlich reicht es dem Jungen und er haut ab, unter Inszenierung seiner Ermordung. Gemeinsam mit dem entlaufenen Sklaven Jim fährt er auf einem Floß den Mississippi entlang, weil Jim hofft, im liberalen Norden seine Freiheit zu erlangen. Die beiden ungewöhnlichen Gestalten werden bald Freunde, sodass Huck nach ersten Skrupeln, als „Abolitionist“ zu gelten, Jim sogar hilft, sich zu verstecken. Im modernen Jargon nennt man so eine Reise wohl einen „Roadtrip“, eine verrückte, nicht immer lustige Tour, bei der Huck unter anderem auf eine Familie trifft, die mit einer anderen in eine blutige Fehde verwickelt ist, bis sich nach Romeo-und-Julia-Manier zwei Teenager der Familien verlieben und die Sache eskaliert.
Richtig komisch wird es, als der „Herzog“ und der „König“ mit an Bord kommen: Zwei Hochstapler auf der Flucht, die sich zunächst gegenseitig in die Pfanne hauen (der eine behauptet, der Sohn eines englischen Herzogs zu sein, der andere gar der abgesetzte Thronfolger Frankreichs), bevor sie beschließen, sich zusammen zu tun und Huck und Jim mehr oder weniger zwingen, bei ihren krummen Geschäften mitzumachen. Dazu zählt eine aus Shakespeare-Szenen zusammengestoppelte Theateraufführung, in der sich beide als bekannte englische Schauspieler ausgeben. Es folgt eine große öffentliche Predigt im Stil der Methodisten oder anderer vorgeblicher Seelenretter. Sie nehmen zwar jedes Mal Geld dabei ein, doch werden sie auch schnell enttarnt und mit Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben. Ein unangenehmer Zwischenfall passiert noch, als Huck einen Mann beobachtet, der betrunken durch die Straßen tobt und einen hochstehenden Colonel des Orts lauthals beleidigt – was zunächst sehr witzig erscheint, wird schlagartig beendet, als sich der Beleidigte rächt und den Mann erschießt. Die Menge will den Mörder daraufhin lynchen, doch verliert sie angesichts seiner gebieterischen, selbstsicheren Persönlichkeit schnell den Mut. Das Meisterstück von „The Duke and The King“ (es gibt ein amerikanisches Folkrock-Duo dieses Namens, aber ich konnte keinen Beweis für die Namensherkunft finden) ist dann ihre Darbietung als zwei englische Brüder (einer davon taubstumm), die nach dem Tod eines dritten, in Amerika lebenden Bruders, seine Familie besuchen und hinter dem Erbe her sind. Übrigens steht Huck den beiden in Nichts nach, er kann aus dem Stehgreif die unwahrscheinlichsten Lügen erfinden und kommt meistens unbeschadet aus der Sache raus. Am Ende wird er noch mit Tom Sawyer vereint, als er durch Zufall bei Toms Verwandten ankommt (Huck gibt sich als Tom aus, Tom als sein Bruder Sid), wo die zwei Tunichtgute eine aberwitzige Befreiung des gefangenen Jim planen à la Graf von Monte Christo und anderer Abenteuerromane. So schmuggeln sie etwa Spinnen in Jims Hütte, die ihm Gesellschaft leisten sollen und lassen ihm in einer Pastete ein Seil zukommen, mit dem er fliehen soll. Alles geht gewaltig schief und fliegt auf, aber das ist nicht weiter schlimm, denn Jim ist ohnehin frei, weil seine Besitzerin verstorben ist und ihm testamentarisch die Freiheit schenkte.
Seit ich das Buch 2001 zu Weihnachten bekam, hab ich es einige Male gelesen, zuletzt auf Englisch, denn im Original kommen die Dialekte, die für die Charakterisierung der Figuren – auch situationsabhängig – von entscheidender Bedeutung sind, natürlich viel mehr zum Tragen. Und Huck redet wunderbarerweise wie ihm der Schnabel gewachsen ist, sodass sich das Buch noch genauso frisch und urkomisch liest wie zur Zeit Hemingways und wohl noch viele Generationen lang: Man muss ihn einfach lieben, my Huckleberry Friend…