Es ist ja allgemein bekannt, dass die Bücher, die man in der Schule lesen muss, nicht zu den beliebtesten gehören. Ich denke, der Grund dafür ist, dass man in Aufsätzen etc. alles zu Tode interpretieren und erörtern muss, worüber man bei einer normalen Lektüre gar nicht nachdenkt (obwohl es Leute gibt, die das auch außerhalb der Schule tun) und die Lehrer keine unbegrenzte Interpretationsfreiheit zulassen. In einem Buch, das ich kürzlich las, wurde das bekannte Gedicht von Robert Frost, „The Road Not Taken“, behandelt und ein Schüler behauptete, es ginge darin um Analsex („I took the one less travelled by…“) – zweifellos ein interessanter Ansatz, aber schreib sowas mal in den Aufsatz. Mitunter hat man auch den Verdacht, dass der Dichter gar nicht so viele Metaphern und versteckte Anspielungen in sein Werk gepackt hat, wie die Lehrer uns glauben lassen wollen (außer Kafka natürlich, der ist ja die helle Freude für Interpretationen aller Art und die meisten sind sogar richtig).
Jedenfalls hatten wir „Michael Kohlhaas“ in der 11. Klasse. Nichts gegen das Werk an sich, der Rosshändler Kohlhaas, der einfach nur Gerechtigkeit für ihm zugefügtes Unrecht sucht, das bei ruinierten Pferden beginnt und bis zum Tod seiner Frau führt und dabei zu unverhältnismäßigen Mitteln greift, ist zweifellos ein interessanter, psychologisch tiefgründiger Charakter. Es hat eher mit Kleist zu tun und seinem Schreibstil: endlose Sätze, die fast eine ganze Seite einnehmen. Eine Wendung und noch eine und noch eine (Wer glaubt denn an Zigeunerprophezeiungen?), der Leser wird hingehalten, die aufregende Handlung nimmt die ersten paar Seiten ein, während der Rest Verzögerung und Verhandlung ist, was mit Kohlhaas geschehen soll. Und taucht unverhofft ein interessanterer Handlungsstrang auf, kann man davon ausgehen, dass er von Kleist totgeschrieben wird. Das langweilte mich im besten Fall und erregte im schlechtesten Fall einen heftigen Widerwillen. Das gleiche passierte mir bei der „Marquise von O.“, die vergewaltigt wird, sich daran aber nicht erinnern kann/will und keine Erklärung für ihre Schwangerschaft findet. Ich fand ihre Naivität einfach nicht glaubwürdig, alles wurde so vorsichtig umschrieben und umständlich erzählt, dass man als heutiger Leser kaum erkennt, dass tatsächlich der Graf, der um die Hand der Marquise anhält, der Vater des Kindes ist. Ich versuche immer, Kleist gut zu finden, weil er mir wie der tragische, romantische Poet schlechthin erscheint, der keine Anerkennung findet und am Ende als einzigen Ausweg den Selbstmord wählte – seufz. Sein „Zerbrochner Krug“ ist wirklich gut, amüsant, bissig. Aber für seine Novellen kann ich mich bislang nicht erwärmen.

Quelle: siegessaeule.de
Nun soll er auch noch schwul gewesen sein…
Nachbemerkung: 2011 hatte ich ein Buch über Kleist, „Geschichte meiner Seele“ hieß es und gab sich als angeblich entdeckte Autobiografie des Dichters aus, mit Gefühlsbeschreibungen, Briefen, Gedichten etc. – mit dem kleinen Fehler, dass diese nicht von Kleist selbst stammten, sondern vom Autor, der sich quasi in den Dichter hineinversetzte, was und wie er hätte schreiben können… Schrecklich! Als eigenständiges, fiktives Werk und Einblick in Kleists Leben nicht ganz schlecht, aber die Gedichte waren zum Teil einfach Mist (vor allem war mir während der Lektüre gar nicht klar, dass sie nicht von Kleist stammten) und ob Kleist wirklich solch offenherzige Briefe geschrieben hätte… Ein gewagtes und zweifelhaftes Experiment, das mich verärgerte.