Ein Monat - ein Buch

Januar 2011: Jakob Wassermann – Caspar Hauser, oder Die Trägheit des Herzens

Für den Januar 2011 fiel die Entscheidung für ein Buch schwer, es hätte auch Wilkie Collins‘ „Monddiamant“ oder Jan Potockis „Handschrift von Saragossa“ sein können – nach beiden hatte ich lange gesucht und mir nicht zu viel davon versprochen. Aber dieses Buch hat auf jeden Fall eine Rezension verdient, schon weil der Autor heute kaum noch bekannt ist, obwohl er zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den „Bestsellern“ gehörte (sein Verbot durch die Nazis hat zu seinem Vergessen erheblich beigetragen). Der mysteriöse Fall des Caspar Hauser ist heute noch genauso rätselhaft wie zu seiner Zeit und Wassermann liefert mit seinem Roman eine Beschreibung, wie es gewesen sein könnte, eine Theorie, der man folgen kann oder auch nicht.

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Quelle: abebooks.com

Die Fakten sind hinlänglich bekannt: An einem Tag im Mai 1828 tauchte in Nürnberg ein junger Mann auf, offenbar orientierungslos und geistig zurückgeblieben. Er konnte wenig sprechen und nur seinen Namen schreiben, eben „Kaspar Hauser“. Später gab er an, er wäre bislang in einem unterirdischen Raum gefangen gehalten worden. Laut eines Briefes, den er bei sich trug, hätte ihn ein armer Tagelöhner gefunden und aufgezogen.

Das mit keiner Namensunterschrift versehene Schreiben lautete: »Ich schicke Ihnen hier einen Burschen, Herr Rittmeister, der möchte seinem König getreu dienen und will unter die Soldaten. Der Knabe ist mir gelegt worden im Jahre 1815, in einer Winternacht, da lag er an meiner Tür. Hab selber Kinder, bin arm, kann mich selber kaum durchbringen, er ist ein Findling, und seine Mutter hab ich nicht erfragen können. Hab ihn nie einen Schritt aus dem Haus gelassen, kein Mensch weiß von ihm, er weiß nicht, wie mein Haus heißt, und den Ort weiß er auch nicht Sie dürfen ihn schon fragen, er kam es aber nicht sagen, denn nur der Sprache ist es noch schlecht bei ihm bestellt. Wenn er Eltern hätte, wie er kein hat, wär was Tüchtiges aus ihm geworden, Sie brauchen ihm nur etwas zu zeigen, da kann er es gleich. Mitten in der Nacht hab ich ihn fortgeführt, und er hat kein Geld bei sich, und wenn Sie ihn nicht behalten wollen müssen Sie ihn erschlagen und in den Rauchfang hängen.«

Er wurde bestaunt, untersucht, kam zu verschiedenen Leuten, die sich um ihn kümmern sollten, doch seine Herkunft blieb im Dunkeln. Immer öfter wurde er als Betrüger angesehen, der nur auf Aufmerksamkeit aus war. Selbst die Attentate auf ihn – das erste im Haus, das zweite im Ansbacher Hofgarten – sollen fingiert gewesen und Hauser sich die Verletzungen, die beim zweiten Mal tödlich waren, selbst zugefügt haben. Es war jedenfalls ein kurzes Leben und bei seinem Tod bleiben viele Fragen offen. Eine Theorie war, dass Caspar ein badischer Erbprinz gewesen sei, der zugunsten eines anderen beiseite geschafft wurde.

Quelle: Dt. Wikipedia

Eine von Caspar Hauser angefertigte Zeichnung

Wassermann versucht, sich der Person Caspar Hauser zu nähern, er steht auf seiner Seite und möchte ihn dem Leser glaubhaft machen, seine Unschuld und Ehrlichkeit beweisen. Nicht der Junge ist schlecht und verlogen, sondern die Menschen um ihn herum, die ihn für verschiedene Ziele, seien es wissenschaftliche oder politische, einspannen wollen, die Caspar nicht versteht, während ihn wiederum niemand wirklich zu verstehen versucht. Dieses Unverständnis, die „Trägheit des Herzens“ durchzieht den ganzen Roman und stimmt traurig, weil man mit Caspar fühlt und Mitleid mit ihm hat. Es hat mich beim Lesen sehr bewegt und da ich so gut wie nichts über die Hauser-Geschichte wusste, war es auch eine sehr interessante, ungewöhnliche Lektüre. Man kann sich anhand des Romans nicht wirklich selbst eine Meinung zu dem Fall bilden, da Wassermann keine objektive Sichtweise bietet (er war von der Erbprinz-Theorie überzeugt und lässt Caspar von einer ungenannten Person, dem „Grauen“, nach dem Leben trachten), aber im Grunde geht es im Rousseauschen Sinne auch eher darum, wie die zivilisierte, aus Regeln und gesellschaftlichen Erwartungen bestehende Welt eine gänzlich unverbildete, „unschuldige“ Natur korrumpieren und zerbrechen kann.

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