Thomas Hardy ist ein weiterer trauriger Fall der allzu Unbekannten in deutschen Landen (nicht mal meinem Vater war er ein Begriff und er kennt sich besser in englischsprachiger Literatur aus als manch anderer). Vielleicht ist er hiesigen Lesern zu trübsinnig – seine Romane enden alle mehr oder weniger in der Katastrophe, Happy Ends sind in der Regel Fehlanzeige: Ausnahme davon ist im gewissen Sinn noch „The Return of the Native“, was aber nur dem Druck des Lesepublikums zu verdanken ist. Hardy war dafür bekannt, „unmoralische“ Beziehungen in den Mittelpunkt seiner Romane zu stellen, aber mit „Jude the Obscure“ überspannte er den Bogen für die pietätvollen viktorianischen Leser endgültig und die heftige Kritik sorgte dafür, dass er danach nur noch Gedichte schrieb und veröffentlichte.
Der Romantitel übte eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus, der Name weckt natürlich Assoziationen zu „Hey Jude“ und zu Jude Law, der entweder nach dem Song oder dem Buch benannt wurde. Dazu das Beiwort „obscure“, also „finster“, „unbestimmt“, „undurchsichtig“ – selbst während der Lektüre wurde mir die Bedeutung des Titels nicht klarer, aber er klingt gut. So nahm ich während meiner Zeit in Lancaster die Gelegenheit wahr und lieh mir den Roman aus, um zu ergründen, wer sich hinter dem Namen verbirgt.

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Unglaublich aber wahr: Es gibt eine Rosenzüchtung dieses Namens
Der Jude in der Geschichte (die im County Wessex spielt, Hardys Heimat) ist ein einfacher Steinmetz, der eine unstillbare Sehnsucht nach Wissen und Bildung hat. Ungewöhnlich für einen Mann seiner Zunft bringt er sich selbst Griechisch und Latein bei. Sein Traum ist es, nach Christminster, Hardys Name für Oxford, zu gehen und zu studieren, doch ist dies zu jener Zeit nur bessergestellten Männern möglich, keinem armen Handwerker. Er schafft es zwar, in der Stadt Arbeit zu finden, doch der Zugang zur Universität bleibt ihm aus finanziellen Gründen versperrt. In einem unüberlegten Akt heiratet er ein Mädchen aus seinem Dorf, Arabella, mit der er einen Sohn hat. Schnell merkt er, dass sie völlig verschieden sind und kein gemeinsames Leben mit ihr möglich ist, sodass es Jude eher erleichtert hinnimmt, als ihn Arabella verlässt. In Christminster lernt er seine Cousine Sue kennen und sie verlieben sich ineinander. Dennoch nimmt Sue einen älteren Schulmeister zum Mann, mit dem sie zwar ein geistig harmonisches Leben führt, doch insgesamt unglücklich ist – was auch an ihrem neurotischen Verhältnis zu Sex liegt, eines Abends springt sie aus Angst vor ihrem Mann tatsächlich aus dem Fenster! Schließlich verlässt Sue ihren Mann für Jude, mit dem sie im Laufe der Zeit zwei Kinder hat, doch weil sie nicht offiziell heiraten können (Sue will das Angebot des Schulmeisters, sich scheiden zu lassen, nicht akzeptieren, weil sie sich dennoch immer als seine Frau fühlen würde), werden sie zu gesellschaftlichen Außenseitern. Jude findet keine Arbeit, jedenfalls nicht, sobald seine uneheliche Beziehung ruchbar wird, und selbst eine Unterkunft wird ihnen manchmal nicht gewährt. Judes Sohn aus erster Ehe, ein etwas seltsames und für sein Alter sehr ernstes und nachdenkliches Kind, glaubt, der einzige Ausweg aus der Misere sei der Tod von ihm und seinen kleinen Geschwistern – was er dann auch prompt vollstreckt… Sue interpretiert dies als göttliche Strafe für ihr sündhaftes Leben mit Jude und kehrt endgültig zu ihrem ungeliebten Mann zurück. Jude lässt sich aus Verzweiflung erneut mit Arabella ein.

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Genau so einsam und verlassen muss sich Jude am Ende fühlen.
Heavy, heavy, heavy. Sicher eines der deprimierendsten Bücher überhaupt, als Leser verzweifelt man an allem: An den gesellschaftlichen Zwängen jener Zeit, in der Sittlichkeit und die Fassade einer Ehe mehr bedeuten als eine große Liebe. An der Unmöglichkeit, seiner sozialen Schicht durch ein Studium zu entkommen, weshalb Judes geistige Fähigkeiten ungenutzt bleiben und er unzufrieden mit seinem Leben ist. Und schließlich und vor allem an Sue, die auf ihre fixen Ideen beharrt und die allgemein gültigen Moralvorstellungen nicht überwinden kann, selbst wenn es zu ihrem eigenen Besten wäre. Hardys kritische Einstellung gegenüber der Ehe und dem Christentum, das diese Moralvorstellungen zementiert hat, tritt deutlich zu Tage. Wie bereits erwähnt, finden sich diese Themen auch in anderen Romanen des Autors, doch nicht in dieser Drastik und Deutlichkeit. Es ist jedenfalls ein ungeheuer trauriges, starkes und bewegendes Buch und seitdem hat mich Hardy nicht mehr losgelassen, von keinem anderen viktorianischen Schriftsteller – außer Dickens – habe ich mehr Werke gelesen und kann ihn jedem nur wärmstens empfehlen. After all, happy endings are overrated.
Nachbemerkung: Man sollte das Buch wirklich im Original lesen. Die Unmöglichkeit, den Titel adäquat zu übersetzen, wird in den drei unterschiedlichen deutschen Ausgaben deutlich: „Juda der Unberühmte“ (1901) – also bitte!; „Herzen in Aufruhr“ (1956) – klingt eher nach Rosamunde Pilcher; „Im Dunkeln“ (1988) – immerhin ein Versuch. Hardys Stellenwert in Deutschland wird übrigens aus dem überaus dürftigen Wikipedia-Artikel ersichtlich.