Dieses ziemlich großformatige Buch las ich zum ersten Mal im Frühling 2001. Eine schön illustrierte Ausgabe der bekanntesten Novellen Theodor Storms, die da wären: „Immensee“, „Beim Vetter Christian“, „Viola Tricolor“, „Pole Poppenspäler“, „Aquis Submersus“, „Ein Doppelgänger“ und „Der Schimmelreiter“. Ich fand diese Erzählungen damals sehr, sehr beeindruckend, es waren romantische, melancholische Geschichten, die eine Saite in meinem fast 13-jährigen Herzen zum Klingen brachten. Im Grunde sind sie aber nicht die offensichtlichste Wahl für eine Kinder- und Jugendbibliothek, dafür sind die Themen zu düster und für den Durchschnittsjugendlichen auch nicht interessant genug. Klar, dass sie mir dafür umso mehr gefielen.

Quelle: abebooks.com
Ausgabe des Verlags Neues Leben, mit Illustrationen von Eberhard Binder-Staßfurt
Die erste Novelle, „Immensee“, ist die Erinnerung eines alten Mannes an seine Jugendliebe, die er von Kindheit an kannte und die ihm versprach, auf ihn zu warten, während er fern der Heimat sein Studium absolvierte. Natürlich bricht sie ihr Versprechen und heiratet einen anderen; später besucht sie der Jugendfreund auf ihrem Landsitz am Immensee, wo er vergeblich versucht, sie zurückzuerobern. Die Novelle ist voller Metaphern, wie ein Vogel, den der Junge seinem Mädchen schenkt, der aber bald stirbt, worauf sie einen neuen von ihrem zukünftigen Gatten erhält. Außerdem versucht er auf dem Immensee, eine Seerose zu erhaschen, doch ist diese zu weit draußen und bleibt unerreichbar. Alles ist in Rückblenden und fast wie im Traum erzählt, aus dem der alte Herr erst aufschreckt, als der Dienstbote mit dem Licht ins Zimmer tritt.
„Beim Vetter Christian“ ist eine vergnügliche Geschichte ums Heiraten. In „Viola tricolor“ versucht eine junge Ehefrau, ihrem Stiefkind eine gute Mutter zu sein, trifft aber lange Zeit auf Ablehnung. Symbol dafür ist ein verwilderter Garten, der seit dem Tod der ersten Frau verschlossen ist. Erst nachdem ein weiteres Kind geboren wurde und die ältere Tochter Zutrauen zu ihrer neuen Mutter gefasst hat, öffnet die nun geeinte Familie den Garten wieder. „Pole Poppenspäler“, eine von Storms bekanntesten Novellen, in der der Mechanikus Paul Paulsen von den Ereignissen erzählt, die ihn als Jungen zu seiner Berufung brachten, als eine fahrenden Puppenspielerfamilie aus Süddeutschland in seine norddeutsche Heimatstadt kamen. Die Kunst des Marionettentheaters fasziniert ihn genauso wie Lisei, die Tochter des Puppenspielers. Als er sie später zufällig wiedertrifft, hält er um ihre Hand an, auch wenn das den leicht verächtlichen Spitznamen „Pole Poppenspieler“ mit sich zieht. „Ein Doppelgänger“ beschreibt die tragischen und vergeblichen Versuche eines ehemaligen Sträflings, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern und sich um seine kleine Tochter zu kümmern, nachdem seine Frau durch einen unglücklichen Unfall in Folge eines Streits gestorben ist. „Der Schimmelreiter“ schließlich ist vermutlich allgemein bekannt, wir lasen ihn in der 8. Klasse, obwohl sie wegen der vielen norddeutschen Ausdrücken und Deichbau-spezifischen Begriffe nicht zu den verständlichsten Novellen gehört. Zentrale Themen sind der Aberglaube und was demjenigen droht, der die alten Traditionen zu überwinden sucht wie Hauke Haien. Etwas Lebendes muss jedenfalls in den Deich rein, und am Ende scheint das Opfer des Deichgrafs genützt zu haben, denn der Deich hält noch immer den Fluten stand.
Meine liebste Geschichte damals war jedoch „Aquis Submersus“. Wie die meisten Novellen Storms hat auch diese eine Rahmenhandlung: Hier ist es das Auffinden eines Manuskripts des Malers Johannes aus dem 17. Jahrhundert, der von seiner Liebe zu der Adligen Katherina erzählt, die er auf Geheiß ihres Bruders in einem Gemälde verewigen soll. Der verstorbene Junker hatte Johannes einst die Ausbildung finanziert und war ihm auch sonst sehr zugetan, anders als sein Erbe, Katharinas Bruder, der sie mit aller Macht an einen anderen Adligen verheiraten möchte. In einem Kampf mit dem neuen Junker hetzt dieser die Bluthunde auf Johannes, der sich daraufhin über das Fenster in Katharinas Zimmer flüchtet:
Sie aber schrak jäh wie aus einem Traum empor. „Was sprichst du, Johannes!“ rief sie; und ihre Hände, so bislang in ihrem Schoß geruhet, griffen nach den meinen. „Nein, nicht fort, nicht fort! Da drunten ist der Tod; und gehst du, so ist auch hier der Tod!“ Da war ich vor ihr hingeknieet und lag an ihrer jungen Brust, und wir umfingen uns in großer Herzensnoth. „Ach, Käthe“, sprach ich, „was vermag die arme Liebe denn! Wenn auch dein Bruder Wulf nicht wäre; ich bin kein Edelmann und darf nicht um dich werben.“ Sehr süß und sorglich schauete sie mich an; dann aber kam es wie Schelmerei aus ihrem Munde: „Kein Edelmann, Johannes?—Ich dächte, du seiest auch das! Aber—ach nein! Dein Vater war nur der Freund des meinen—das gilt der Welt wohl nicht!“ „Nein, Käthe; nicht das, und sicherlich nicht hier“, entgegnete ich und umfaßte fester ihren jungfräulichen Leib; „aber drüben in Holland, dort gilt ein tüchtiger Maler wohl einen deutschen Edelmann; die Schwelle von Mynherr van Dycks Palaste zu Amsterdam ist wohl dem Höchsten ehrenvoll zu überschreiten. Man hat mich drüben halten wollen, mein Meister van der Helst und andre! Wenn ich dorthin zurückginge, ein Jahr noch oder zwei; dann—wir kommen dann schon von hier fort; bleib mir nur feste gegen euere wüsten Junker!“
Katharinens weiße Hände strichen über meine Locken; sie herzete mich und sagte leise: „Da ich in meine Kammer dich gelassen, so werd ich doch dein Weib auch werden müssen.“ —Ihr ahnete wohl nicht, welch einen Feuerstrom dies Wort in meine Adern goß, darin ohnedies das Blut in heißen Pulsen ging.—Von dreien furchtbaren Dämonen, von Zorn und Todesangst und Liebe ein verfolgter Mann, lag nun mein Haupt in des viel geliebten Weibes Schoß. Da schrillte ein geller Pfiff, die Hunde drunten wurden jählings stille, und da es noch einmal gellte, hörete ich sie wie toll und wild davon rennen. Vom Hofe her wurden Schritte laut; wir horchten auf, daß uns der Athem stille stund. Bald aber wurde dorten eine Thür erst auf-, dann zugeschlagen und dann ein Riegel vorgeschoben. „Das ist Wulf“, sagte Katharina leise; „er hat die beiden Hunde in den Stall gesperrt.“—Bald hörten wir auch unter uns die Thür des Hausflurs gehen, den Schlüssel drehen und danach Schritte in dem untern Corridor, die sich verloren, wo der Junker seine Kammer hatte. Dann wurde alles still. Es war nun endlich sicher, ganz sicher; aber mit unserem Plaudern war es mit einem Male schier zu Ende. Katharina hatte den Kopf zurückgelehnt; nur unser beider Herzen hörete ich klopfen.—“Soll ich nun gehen, Katharina?“ sprach ich endlich. Aber die jungen Arme zogen mich stumm zu ihrem Mund empor; und ich ging nicht.
Kein Laut war mehr, als aus des Gartens Tiefe das Schlagen der Nachtigallen und von fern das Rauschen des Wässerleins, das hinten um die Hecken fließt.—
Ihr Plan zur gemeinsamen Flucht misslingt und der Maler sieht seine Liebste erst fünf Jahre später wieder, verheiratet mit einem Geistlichen. Der gemeinsame Sohn von Katherina und Johannes ertrinkt durch die Nachlässigkeit der Eltern, worauf der Vater den toten Jungen malt und dazu C. P. A. S. schreibt: „Culpa Patris Aquis Submersus“, „durch des Vaters Schuld im Wasser versunken“ – es ist eben dieses Bild, dass die Neugier des Erzählers 200 Jahre später weckt und ihn die Aufzeichnungen mit Johannes‘ Bekenntnis finden lässt. Wie im Auszug erkennbar, ist die Novelle in einem bewusst altertümlichen Stil verfasst, um die Zeit um 1660 herauf zu beschwören. Dies hinderte mich jedoch nicht daran, diese bittersüße Geschichte zu lieben und ins Herz zu schließen – schon damals hatte ich offenbar eine Schwäche für Paare, deren Liebe Standesgrenzen überschreitet…
2011 lieh ich mir haargenau die gleiche Ausgabe noch einmal aus, nur aus einer anderen Bücherei. Und auch mit einiger Leseerfahrung mehr kann ich sagen, dass diese Novellen nichts von ihrer Schönheit verloren hatten, im Gegenteil verstand ich sie nun noch besser und schätze Storm als einen Meister dieses Genres. Man ist nie zu jung, um wirklich gute Literatur zu verdauen.
„Aquis Submersus“ ist eine meiner absoluten Lieblingsnovellen, in ihr ist Storms meisterliche Art zu schreiben in wunderschöner Reinheit komprimiert. Habe Deinen Blog gerade beim Googlen von „Problematische Naturen“ entdeckt, der mir heute in der 1965er Ausgabe vom Postmann endlich in die Hände gelegt wurde; ich freue mich, jemanden gefunden zu haben, die der Literatur des 19. Jahrhunderts offensichtlich positiv gewogen ist, was ja heutzutage doch eher selten ist (leider…). Freue mich drauf, mir weitere Deiner Rezensionen durchzulesen!
Wie schön, ein weiterer Freund von Storm und hoffentlich auch bald von „Problematische Naturen“! Ja, das 19. Jahrhundert hat meiner Meinung nach wirklich die schönsten literarischen Werke hervorgebracht, es ist eine andere Qualität des Erzählens, die man heute nicht mehr wirklich findet.