„Baudolino“ ist ein Lügen- und Schelmenroman, wie er heutzutage kaum noch geschrieben wird, eher ein Genre des Barock, erblüht es bei Eco wieder zu vollster Schönheit. Baudolino ist ein gebürtiger Italiener und Bauernjunge, der am Hofe von Kaiser Friedrich Barbarossa Karriere macht und ihn schließlich auf seinem Kreuzzug begleitet, wo er auch den Brand und die Plünderung von Konstantinopel miterlebt. All dies wird in einer mitreißenden, zuweilen derben Sprache erzählt, wie sie für die Zeit des Mittelalters typisch ist.
Ein Höhepunkt der Handlung ist zweifellos, als Baudolino den Kanzler und Erzbischof Rainald von Dassel davon überzeugt, dass er an die Gebeine der Heiligen Drei Könige gelangen könnte, die dann tatsächlich auch nach Köln überführt werden – ihnen zu Ehren wurde ja der ganze gewaltige Dom errichtet, wo man noch heute den goldglänzenden Schrein bewundern kann. Zusammen mit seinen Freunden baut Baudolino einen florierenden Reliquienhandel auf und an Legenden zur Herkunft und dem Hintergrund der heiligen Stücke mangelt es ihnen nicht. Vor allem beschäftigt ihn aber das ferne, sagenhafte Reich des Priesterkönig Johannes, der angeblich über ein christliches Volk irgendwo in Asien herrscht. Dieses Reich zu finden und damit eine Art Brücke von Europa zum unbekannten östlichen Kontinent zu schlagen (und einen mächtigen Verbündeten für den Kaiser als Gegengewicht zum Papst zu gewinnen), ist Baudolinos Traum und Ziel. Der zweite Teil des Romans, nach Barbarossas Tod durch Ertrinken, führt ihn daher in fantastische Länder, wo all die Fabelwesen leben, die man aus mittelalterlichen Schriften kennt, Skiapoden mit nur einem Fuß, der ihnen Schatten spendet, Mantikoren, Einhörner, Blemmyer ohne Kopf, Satyre (in eine davon namens Hypatia verliebt sich Baudolino leidenschaftlich) und viele weitere – die ganze Reise bis in die Stadt Pndapetzim und zurück auf den Schwingen des Vogels Roch nach Konstantinopel wirkt wie ein Fiebertraum oder Drogentrip. Jedenfalls ungeheuer unterhaltsam und aberwitzig, ein bisschen dick, aber niemals langweilig. Eco nutzt sein enormes Wissen, gerade über das Mittelalter und seine zahlreichen ungelösten Rätsel, und setzt diesen schlauen, erfindungsreichen Piemonter Jungen ein als Schlüssel zu diesen Mysterien, wie etwa den Brief des „Priesterkönigs“ an den byzantinischen Herrscher – eine Fälschung, klar, aber von wem? Wie konnte Barbarossa einfach so beim Schwimmen verunglücken? Woher kamen die Reliquien der Heiligen Drei Könige? Nun, bei all diesen Dingen hat natürlich der Titelheld seine Finger im Spiel. Der Roman bietet zudem faszinierende Einblicke in die Vorstellungswelt des Mittelalters, als viele überlieferte Berichte und groteske Wesen für bare Münzen genommen wurden. Warum nicht, unter Gottes weitem Himmel ist nichts unmöglich und die einfache Tatsache, dass so wenig von den Weltteilen und ihren Bewohnern bekannt war, gab viel Raum für Spekulationen und Erfindungen. Eigentlich schade, dass solche Mythen in unserer nüchternen, aufgeklärten Zeit keinen Bestand mehr haben. Umso besser, dass es Bücher wie „Baudolino“ gibt, die uns daran erinnern, welche Kapriolen die Fantasie schlagen kann.

Quelle: lazonamuerta-cine.blogspot.co.uk
Vertreter der Völker, wie sie Baudolino begegnen: Blemmyer, Skiapoden, Arimaspen