Ein Monat - ein Buch/Lieblingsbücher

März 2011: Wolfgang Herrndorf – Tschick

Dieses Buch wurde zum Zeitpunkt des Erscheinens 2010 ordentlich gehypt – und zu Recht! Es ist sicher eines der besten deutschen Jugendbücher der letzten Jahre, und ein Lesevergnügen für junge und nicht mehr ganz so junge Leser gleichermaßen. Der Roman verbindet die klassische Coming-of-Age-Story mit einem Roadtrip und stellt in den Mittelpunkt zwei völlig verschiedene Charaktere, die aber eines verbindet: sie sind Außenseiter, jeder auf seine Art.

Quelle: ruhrnachrichten.de

Der 14-jährige Maik, aus dessen Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird, wächst in einer wohlhabenden Familie auf, doch seine Mutter ist alkoholkrank (weshalb sie immer wieder in der „Beautyfarm“, sprich Entzugsklinik verschwindet) und sein Vater hat eine Geliebte, mit der er in den Urlaub fahren will. Die Sommerferien stehen vor der Tür und Maik hat keine Freunde, mit denen er etwas unternehmen könnte, nur 200€ vom Vater mit der Anweisung, er solle sich die nächsten zwei Wochen allein kümmern. Außerdem ist er hoffnungslos in die Klassenschönheit Tatjana verknallt, für die er ein großes Porträt von Beyoncé zeichnet, ihrem Lieblingsstar, das er ihr zum Geburtstag schenken möchte. Natürlich bekommen dann alle in der Klasse eine Einladung zur Party, außer Maik – und Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, einem Russlanddeutschen, der neu in der Klasse ist, betrunken zur Schule kommt und ansonsten einen etwas unheimlichen Eindruck macht. Ebendieser Tschick taucht am Abend der Party ganz unerwartet bei Maik zu Hause auf, in einem klapperigen Lada, den er gestohlen hat, wie er freimütig zugibt. Zusammen machen sie sich auf zu Tatjana, wo Maik in einer großen Szene seiner Angebeteten feierlich die Zeichnung übergibt, zur Verblüffung aller Anwesenden. Anschließend schlägt Tschick vor, doch zu seinem Opa in die Walachei zu fahren. Eine total verrückte Idee, außerdem weiß keiner von ihnen so genau, wo sich diese Walachei eigentlich befindet, aber da Maik gerade nichts besseres zu tun hat, lässt er sich darauf ein und die Reise beginnt. Zwar nicht durch die Walachei, aber die brandenburgische Provinz ist auch schon abenteuerlich genug, und da sie keine Karten haben (dafür eine Kassette mit Musik von Richard Clayderman), fahren sie einfach drauflos, mal über die Autobahn, mal über Landstraßen und ohne wirkliches Ziel. Unterwegs gabeln sie noch Isa auf, die völlig verdreckt und ungewaschen ist, aber weiß, wie man mit einem Schlauch Benzin absaugen kann. Schließlich landen sie in einem Gebirge, das gut und gern das Zittauer sein könnte – jedenfalls irgendwo in Ostsachsen, denn Isa möchte nach Prag –, machen Rast an einem See, und nachdem Isa sich gründlich gewaschen hat, betrachtet Maik sie plötzlich mit ganz anderen Augen und es kommt fast zu einem Kuss. Die Fahrt hat alle drei zusammen geschweißt und auf einem Berg geloben sie, sich nach 50 Jahren wieder an der gleichen Stelle treffen zu wollen. Später nimmt Isa einen Bus nach Prag, verspricht Maik aber, ihm zu schreiben.

Die zwei Jungs erleben dann noch einiges, so treffen sie einen komischen Alten, der sie mit dem Luftgewehr begrüßt, und als sich Tschick bei einem Unfall den Fuß bricht, muss Maik seinen Kumpel aus dem Krankenhaus holen und den fast schon schrottreifen Lada selbst fahren. Ein erneuter Unfall macht der Fahrt dann endgültig ein Ende und Maik landet erst auf der Polizei und dann im Krankenhaus. Natürlich hat die Sache noch ein gerichtliches Nachspiel, aber tatsächlich ist alles recht glimpflich ausgegangen. Was bleibt, ist die Freundschaft zwischen Maik und Tschick, und dass Maik plötzlich für seine Klassenkameraden, vor allem aber für Tatjana, interessant ist. Nur freut er sich viel mehr darüber, als ein Brief von Isa ankommt, und auch mit seiner Mutter scheint es langsam bergauf zu gehen, zumindest ist der Vater als Wurzel des Problems weg. Das Ende bleibt offen, doch sieht die Zukunft vielversprechend aus.

Es passiert so viel auf diesen vielleicht 250 Seiten, eine schräge Begebenheit jagt die nächste und es macht einfach Spaß, die zwei Jungs auf ihrer Tour zu begleiten und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Ihren genialen, mal philosphischen, mal komischen Dialogen zu lauschen. Der Roman ist zwar in einer forschen Jugendsprache geschrieben, die aber nie gekünstelt oder albern wirkt. Man muss diese zwei Typen, Maik und Tschick, einfach sympathisch finden und fühlt sich selbst in die Zeit zurückversetzt, als man noch so spontan und abenteuerlustig war wie sie, als die Welt wie eine unendliche Autobahn schien und nur darauf wartete, entdeckt zu werden. Vor allem lernt Maik, dass nichts so gut Vorurteile abschaffen kann, wie sich drauf einzulassen, selbst auszuprobieren und seine eigene Meinung zu bilden:

„Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nachrichten kuckte: Der Mensch ist schlecht. Wenn man Spiegel TV kuckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“

Man wünscht sich noch viel mehr solcher Bücher, gerade von Wolfgang Herrndorf, der zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits an einem Hirntumor erkrankt war und deshalb all die Preise, nicht nur für „Tschick“, auch für seinen Roman „Sand“ (2012 erschienen), nicht persönlich entgegennehmen konnte/wollte, bevor er 2013 freiwillig aus dem Leben schied. Sein Vermächtnis bleibt „Tschick“, das mittlerweile auch schon in der Schule gelesen wird. Den Schülern könnte wirklich Schlimmeres zustoßen als dieses großartige Buch.

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