Ein Monat - ein Buch

Oktober 2002: Robert Schneider – Schlafes Bruder

Der Titel dieses Buches war mir ein Rätsel. Da im Allgemeinen selten der Genitiv von „Schlaf“ verwendet wird und das Wort auch kaum personalisiert erscheint, verstand ich ihn immer als Aufforderung: „Schlafe, Bruder“, Genitiv-s hin oder her. Gerade deshalb wollte ich den Roman unbedingt lesen, weil mich der Titel sehr neugierig machte (da sieht man mal wieder, dass ein guter Name schon die halbe Miete ist). Und so lernte ich dann Johannes Elias Alder kennen.

Quelle: lovelybooks.de

Die Bedeutung des Engelsgesichts auf dem Cover bleibt auch ein Geheimnis, sollte es Elias darstellen? Oder gar „Schlafes Bruder“?

Als musikalisches Genie mit dem perfekten Gehör geboren – quasi ein literarischer Verwandter von Jean-Baptiste Grenouille aus dem „Parfüm“ -, hat Elias das Pech, in einem kleinen, österreichischen Dorf zur Welt zu kommen, wo niemand seine Begabung erkennt oder gar fördert. Die Bewohner dort sind alle mehr oder weniger inzestuös miteinander verwandt und daher degeneriert. Mit fünf erlebt er in einem Augenblick eine schlagartige Verschärfung des Gehörs, was nicht nur zu einer frühzeitigen körperlichen Reife, sondern auch zur gelben Verfärbung seiner Iris führt. In diesem Moment hört er auch den Herzschlag eines ungeborenen Kindes: den seiner Cousine Elsbeth, die er seitdem unsterblich liebt. Als Außenseiter und den Leuten wie ein Idiot vorkommender Mensch hat er nur einen Freund, Peter, der eine tiefe Faszination und Liebe für ihn hegt. Elias bringt sich selbst das Orgelspiel bei und wird später zum Organisten der Dorfkirche. Bei einem Brand, dem das halbe Dorf zum Opfer fällt, rettet er die schlafende Elsbeth, was seine Verbundenheit mit ihr noch verstärkt. Dies führt jedoch zu einer heftigen Eifersucht bei Peter, der den Freund ganz für sich allein haben will und versucht, die Schwester möglichst bald zu verheiraten – was Elias in tiefste Verzweiflung stürzt. Als ein Domorganist auf ihn aufmerksam wird und ihn in die Stadt Feldberg zu einem Wettbewerb einlädt, muss Peter seinen Freund erst überreden. Dieser weiß mit den musikalischen Begriffen wie „Fuge“ nichts anzufangen, erkennt aber beim Zuhören der anderen Teilnehmer rasch, was gefordert wird und liefert mit seinen Improvisationen zu Bachs „Kömm, o Tod, du Schlafes Bruder“ (da haben wir die Erklärung des Titels) ein unglaubliches Meisterwerk ab, das alle Zuhörer in Verzückung versetzt:

„Elias atmete die unerhört spannungsgeladene Zäsur, griff siebenstimmig in die Tasten, spielte den Choral bis zum 3. Takt, riß ab, atmete, harmonisierte in unaufgelösten Dissonanzen bis zum 4. Takt, riß ab, […] Dergestalt wollte er darlegen, wie man sich gegen den Tod aufzulehnen habe, gegen das Schicksal, ja gegen Gott“  (Quelle)

Elias erinnert sich derweil an den Satz „Wer liebt, schläft nicht“ und setzt dies auf radikale Weise um, als Beweis seiner Liebe zu Elsbeth. Selbst wenn diese davon nichts bemerkt, denn Elias hat ihr nie von seinen Gefühlen erzählt…

Ein ungewöhnliches, aber gutes Buch, in einer betont altmodischen Sprache verfasst, als wäre es ein Bericht von damals, aus dem 19. Jahrhundert, und über eine reale Person. Sie erschafft eine andere Welt, gottesfürchtig, voller Urgewalten, und mittendrin Elias, gesegnet mit einer Gabe, die ihm mehr Leid als Freude schenkt. Der auktoriale Erzähler unterbricht oft mit Kommentaren das Geschehen, greift ihm vor (so erfährt man schon zu Beginn, wie es mit Elias ausgehen wird) oder geht zurück in der Zeit. Die Geschichte über die Kraft der Musik und der Liebe – auch der zwischen Gott und den Menschen; Elias hadert mit ihm, bekommt seinen Wunsch erfüllt und ist dennoch nicht glücklich – ist überaus faszinierend, wenn man sich auf den Stil einlässt, der es einem mit dialektalen Wörtern oder Neologismen nicht immer leicht macht. Ich fand den Roman damals verwirrend und trotzdem fesselnd, auf eine seltsame Weise beglückend. Jahre später sah ich auch den Film von Joseph Vilsmaier, der mir die Handlung noch einmal auffrischte und den ich gleichfalls empfehlen kann, er hat jedoch nicht die Kraft  des Textes und hinterlässt nicht dessen nachhaltigen Eindruck.

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