In einem Artikel über eine englische Balzac-Übersetzung schrieb Oscar Wilde: “Who would care to go out to an evening party to meet Tomkins, the friend of one’s boyhood, when one can sit at home with Lucien de Rubempré? It is pleasanter to have the entrée to Balzac’s society…” Er war offensichtlich ein großer Fan dieser literarischen Figur. Und auch ich hatte das Vergnügen, zu Hause mit Lucien zu sitzen und mich sehr langsam, im Verlauf des Sommers 2009, durch seine Geschichte zu arbeiten, unter häufiger (und nervtötender) Benutzung des Wörterbuchs. Aber mit der Zeit wurden die Verständnisprobleme immer kleiner und ich konnte der Handlung mehr oder weniger gut, mit einem manchmal intuitiven Begreifen, folgen. Das Buch hatte ich mir zusammen mit anderen schönen und guten Dingen im Pariser Virgin Megastore gekauft. Schließlich konnte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, einen solchen Klassiker im Original zu erwerben und zu lesen.

Quelle. livres.ados.fr
Der Roman ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil („Les deux poètes“) spielt im Provinzstädtchen Angoulême, wo der junge Lucien seinen Träumen nach einem Dichterleben nachhängt, während sein Freund David, der mit Luciens Schwester verlobt ist, eine kleine Druckerei geerbt hat – die detaillierte Beschreibung des Inventars und der Arbeitsweise einer solchen Druckerei auf Französisch war kein leichter Stoff! Lucien wird von seiner Familie und dem Freund als verkanntes Genie betrachtet oder zumindest als jemand, der zu Höherem bestimmt ist. Obwohl mittellos, findet er Einlass in den Salon der vornehmsten Dame im Ort, die ihn protegiert und zwischen den beiden entspinnt sich eine platonische Liebe. Die zwei werden in einer zwar harmlosen, doch kompromittierenden Szene ertappt, worauf Madame es für das Beste hält, mit Lucien nach Paris zu fliehen, damit er dort Karriere machen kann. Hier beginnt der zweite Teil, „Un grand homme de province à Paris“, der von Luciens beharrlichen, aber vergeblichen Versuchen berichtet, in die feine Pariser Gesellschaft aufgenommen zu werden und durch sein Schreiben für Zeitungen ein Einkommen zu erzielen. Denn seine Mäzenin lässt ihn bald links liegen und der Skandal ist auch in der Hauptstadt ruchbar geworden, sodass dem jungen Poeten die Türen verschlossen bleiben. In der Halbwelt der Kurtisanen und Journalisten findet Lucien zwar Abenteuer und Affären, doch kein Glück. Intrigen und politische Grabenkämpfe zwischen unterschiedlich gesinnten Zeitungen zerstören seine junge Karriere als Schreiberling. Hohe Schulden reißen ihn ins Verderben, seine Geliebte stirbt und Lucien zieht auch noch seinen Schwager David mit hinein, als er einen Wechsel mit dessen Namen unterzeichnet. Gedemütigt und desillusioniert kehrt er schließlich nach Angoulême zurück. Der dritte Teil trägt den Titel „Les souffrances de l’inventeur“ und handelt vor allem von David, der eine Erfindung zur besseren Haltbarkeit von Papier gemacht hat, doch um seinen verdienten Lohn gebracht wird und nach einem Bankrott ins Schuldgefängnis muss. Lucien, der zu dem Unglück einen großen Teil beigetragen hat, will nicht mehr leben, wird jedoch im letzten Moment von einem spanischen Priester am Selbstmord gehindert. Er nimmt Lucien in seine Dienste und gibt ihm Geld, um David aus dem Gefängnis auszulösen. Am Schluss des Romans geht der enttäuschte Dichter mit seinem neuen Wohltäter nach Spanien, doch ist dies noch nicht das Ende, denn in „Glanz und Elend der Kurtisanen“ wird seine Geschichte weiter verfolgt. Dort wird es dann auch zu der Szene kommen, die Oscar in einem anderen Zitat erwähnt:
One of the greatest tragedies of my life is the death of Lucien de Rubempre. It is a grief from which I have never been able completely to rid myself. It haunts me in my moments of pleasure. I remember it when I laugh.
Soweit wird es bei mir vermutlich nicht kommen, aber natürlich möchte ich auch diesen Roman noch lesen, wenn irgend möglich aber ebenfalls im Original und da wurde ich bislang (die Kaufoption außen vorgelassen) noch nicht fündig. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und einmal kommt die Zeit, in der ich wieder die Gesellschaft von Lucien de Rubempré genießen kann. Ein schöner, allzu verführerischer Junge, leider sehr naiv und er lebt gern über seinen Verhältnissen, weil er nie gelernt hat, klug zu handeln und vernünftig zu wirtschaften. Gilt es, eine neue Geliebte zu beeindrucken oder den großen Mann zu markieren – da ist er dabei. Und dabei verliert er nicht nur seine Illusionen, sondern auch seine Skrupel, wie man an den gefälschten Wechseln sieht. Sein Geburtsname ist ja nicht einmal „de Rubempré“, sondern Chardon, er nimmt den Mädchennamen seiner Mutter später an, um eine gewisse Noblesse vorzutäuschen.

Quelle: larousse.fr
Lucien bei der Arbeit
Der Roman beschreibt auch sehr anschaulich das Zeitungswesen des 19. Jahrhunderts (vergleichbar mit „Pendennis“ von Thackeray), die heuchlerische und intrigante Gesellschaft, sei es in Paris oder in der Provinz, sowie das Leben der Tänzerinnen und Prostituierten, die oft genug unter ärmlichsten Verhältnissen lebten, nichts als ihren Körper zu bieten hatten und früh an Auszehrung starben. Insgesamt ein prächtiges, aber unglamouröses Bild dieser Zeit, ein zeitloser Klassiker und lesenswert auf Deutsch und Französisch (oder in jeder beliebigen anderen Sprache).