Diese Lektüre hatte ich mir schon länger vorgenommen, aber immer wieder aufgeschoben bis zum Februar 2012. Ich hatte meine Diplomarbeit abgegeben und jede Menge Zeit und Muße, einen weiteren dicken Klassiker zu verdauen. Am Ende sollte es sich als eines der besten Bücher herausstellen, die ich in jenem Jahr las, wirklich gut lesbar und mit einer sehr denkwürdigen Liebesgeschichte.

Quelle: wikipedia.org
Faszinierend am Autor ist doch, dass er sein Pseudonym von der kleinen Stadt Stendal in Sachsen-Anhalt geborgt hat – wann nennt sich mal jemand „Eisenhüttenstadt“ oder „Castrop-Rauxel“?
Die im Titel genannte Kartause kommt erst am Romanende vor, bis dahin folgen wir den verschlungenen Pfaden des jungen Adligen Fabrizzio del Dongo, eines heißblütigen, abenteuerlustigen Italieners. Seine Tante, Gina de Pietranera, zieht im Hintergrund zu Gunsten ihres Neffen die Fäden, denn sie hat eine große Schwäche für ihn. Er bringt sich jedoch immer wieder in Gefahr. So will er zu Beginn der Geschichte unbedingt für Napoleon, sein Idol, in Waterloo kämpfen, ist dafür aber völlig unvorbereitet, stolpert von einer riskanten Situation in die nächste und überlebt nur mit viel Dusel. Diese Szenen sind oft komisch und ein großes Lesevergnügen. Zurück in der Heimat, versuchen seine Tante und ihr Liebhaber, ein Minister am Fürstenhofe von Parma, Fabrizzio eine kirchliche Karriere zu verschaffen und schicken ihn nach Neapel ins Priesterseminar. Er verhält sich aber alles andere als fromm, hat viele Tändeleien, und eine dieser Affären verwickelt ihn in eine Auseinandersetzung, die für seinen Rivalen tödlich ausgeht. Fabrizzio flieht, wird jedoch wenig später gefasst und für den Mord in den Farnese-Turm in Parma gesperrt. Seine Tante versucht verzweifelt, ihm die Flucht zu ermöglichen, doch mit der Zeit ist der Gefangene immer weniger daran interessiert. Von seiner Zelle aus schaut er nämlich auf das Haus des Gefängnisverwalters und kommt so des Öfteren in den Genuss, dessen liebreizende Tochter Clelia zu sehen. Er verliebt sich in sie, versucht von seinem Turmfenster aus Kontakt mit ihr aufzunehmen, und nach anfänglichem Sträuben geht das Mädchen darauf ein. Diese Romanze ist wirklich süß und findet ihren Höhepunkt, als ein Giftanschlag auf Fabrizzio geplant ist und Clelia ihn retten muss:
Clelia blickte sich in der Zelle um und sah Fabrizzio vor einem winzigen Tischchen sitzen, auf dem sein Mittagsmahl stand. Sie flog an den Tisch, warf ihn um, packte Fabrizzio am Arm und fragte: »Hast du gegessen?« Dieses Du entzückte Fabrizzio. In ihrer Verwirrung vergaß Clelia zum ersten Male die weibliche Zurückhaltung und verhehlte ihre Liebe nicht.
Fabrizzio hatte die verhängnisvolle Mahlzeit soeben beginnen wollen. Er nahm Clelia in seine Arme und bedeckte sie mit Küssen. ›Dies Essen war vergiftet.‹ dachte er, ›wenn ich ihr sage, daß ich es nicht angerührt habe, tritt die Religion wieder in ihre Rechte, und Clelia entflieht mir. Wenn sie dagegen in mir gleichsam einen Sterbenden sieht, dann setze ich es bei ihr durch, mich nicht zu verlassen. Sie sehnt sich nach einem Mittel, ihre abscheuliche Verlobung aufzuheben; der Zufall gibt es uns in die Hand. Die Aufseher werden sich zusammenrotten, werden die Tür stürmen, und wir geben ein derartiges Ärgernis, daß sich der Marchese Crescenzi darüber entsetzt, und aus ists mit der Heirat!‹
Im Augenblick des Stillschweigens, der mit dieser Überlegung verging, fühlte Fabrizzio, daß sich Clelia seiner Umarmung bereits zu entziehen suchte. »Ich fühle noch gar keine Schmerzen,« sagte er zu ihr, »aber bald werde ich mich zu deinen Füßen winden. Steh mir bei im Sterben!« »O mein einziger Freund!« schrie sie auf. »Ich will mit dir sterben!« Wie im Krampf drückte sie ihn an sich.
Sie war so schön, nur halb bekleidet und im Zustande so grenzenloser Leidenschaft, daß Fabrizzio einer fast unwillkürlichen Bewegung nicht widerstehen konnte. Willenlos gab sie sich ihm hin.
Seufz. Das Problem bei dieser Liebe, wie auch in der zitierten Szene angesprochen, ist Clelias übergroße Frömmigkeit, sodass ihr Tun in ihren Augen natürlich eine schreckliche Sünde darstellt. Sie heiratet zur Strafe einen Mann, den ihr Vater für sie bestimmt hat, und legt das Gelübde ab, Fabrizzio nie wieder zu sehen. Dieser wird derweil ein verehrter Prediger: Das Feuer in seinen Reden kommt aus der Hoffnung, seine Liebste in die Kirche und somit wieder in seine Nähe zu locken. Sein Plan geht auf, und Clelia hält dennoch ihr Gelöbnis, indem sie auf einen besonderen Dreh kommt:
Fabrizzio trat vorsichtig ein und sah sich wirklich in der Orangerie, aber vor einem vergitterten Fenster, das drei bis vier Fuß über dem Boden war. Tiefes Dunkel herrschte. Fabrizzio hörte am Fenster ein Geräusch und tastete mit der Hand nach dem Gitter. Da fühlte er eine andere, die sich ihm durch die Stangen entgegenstreckte, die seine ergriff und an sich zog, um sie an die Lippen zu führen.
»Ich bin es,« sagte eine teure Stimme zu ihm, »ich bin hergekommen, um dir zu sagen, daß ich dich liebe, und um dich zu fragen, ob du mir gehorsam sein willst.« Die Antwort Fabrizzios, seine Freude und sein Erstaunen kann man sich vorstellen. Nach dem ersten Rausche sagte Clelia zu ihm: »Ich habe der Madonna gelobt, wie du weißt, dich nie wieder zu sehen. Deshalb empfange ich dich in diesem tiefen Dunkel. Wisse, wenn du mich je zwingst, dich am hellen, lichten Tage anzusehen, dann ist alles aus zwischen uns beiden. Und dann will ich nicht, daß du wieder vor Annetta Marini predigst. Glaube übrigens ja nicht, daß ich die Dummheit begangen habe, in das Haus Gottes einen Lehnstuhl tragen zu lassen.«
»Mein lieber Engel, ich werde nicht wieder predigen, vor niemandem mehr. Ich habe nur gepredigt, in der Hoffnung, daß ich dich eines Tages wiedersähe!« »Sprich nicht so! Denke daran, daß ich dich nicht wiedersehen darf.« –
Drei Jahre geht das so und Clelia bringt einen Sohn von ihm zur Welt, doch als ihr gemeinsames Kind stirbt, sieht Clelia dies als göttliche Strafe an, sagt sich endgültig von der Beziehung los und wird vom Kummer dahin gerafft. Das führt nun wiederum dazu, dass Fabrizzio Zuflucht in die Kartause, ein Kloster des Kartäuserordens nimmt, wo auch ihm kein langes Leben mehr beschieden ist.
Clelias riesige Dummheit – nichts anderes ist in meinen Augen eine solch bigotte Religiosität, die jedem fleischlichen Genuss einen bitteren Beigeschmack gibt und gleichzeitig zu solchen albernen Verdrehungen führt, als ob sich die Madonna davon blenden ließe – verdarb mir ein wenig den Schluss dieses ansonsten wirklich ausgezeichneten Romans. Auch Fabrizios Weg vom romantischen Helden zum Erzbischof von Parma ist eher bedauerlich und zeigt einmal mehr, wie heuchlerisch die katholische Kirche mit ihrem Zölibat doch ist. Darin und in seinem draufgängerischen, liebeshungrigen Jungspund ist der Roman vergleichbar mit „Rot und Schwarz“, Stendhals zweitem großen Werk. Ich persönliche ziehe jedoch die „Kartause“ vor, das Buch ist unterhaltsamer, bissiger und hat einen weniger tragischen Schluss. Gestorben wird zwar auch, aber das ist schon in Ordnung, wenn unser Paar denn nicht zusammen leben kann.