Ich habe nicht allzu viele Bücher dieses gutaussehenden Autors gelesen (drei, um genau zu sein), aber die ich kenne, haben mich schwer begeistert. Ich glaube, mit der Zeit wiederholen sich seine Motive und Charaktere (irre ich mich, oder kommen mehr als einmal Bären und Inzest vor?), aber ich möchte auf jeden Fall noch „Garp und wie er die Welt sah“ sowie „Owen Meany“ lesen. „Witwe für ein Jahr“ war nun meine Einführung in Irvings Werk, ein Klopper von Buch, perfekt für die Sommerferien. Die Menge an darin verarbeitetem Stoff und Themen wird ersichtlich, wenn man bedenkt, dass allein der erste Teil, in dem die titelgebende „Witwe“ noch ein Kind ist, für einen ganzen Spielfilm ausreichte, „The Door in the Floor“ mit Kim Basinger.
In eben diesem ersten Teil des Romans (der 1958 spielt) geht es weniger um das kleine Mädchen Ruth Cole, als um ihre Eltern. Mutter Marion ist in tiefer Trauer um ihre Zwillingssöhne, die im Teenageralter bei einem Unfall ums Leben kamen. Im ganzen Haus finden sich noch Fotos der beiden Jungen Thomas und Timothy. Vater Ted ist Autor von Kinderbüchern und belebt seinen Alltag durch Aktzeichnungen der Nachbarsfrauen, mit denen er dann stets kurze Affären hat. – Aus einer von Teds Geschichten ist übrigens ein wirkliches Kinderbuch entstanden: „Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen“. – Als der junge Eddie als Teds Assistent für den Sommer ins Haus kommt, dauert es nicht lange, bis er Marions Schönheit völlig erlegen ist, die ihn wiederum nach Mrs-Robinson-Art nur allzu gern verführt und sexuell initiiert. In einer unvergesslichen Szene erwischt Ruth die beiden in flagranti, worauf Eddie in der Eile nur einen Lampenschirm als Lendenschurz findet (selbst wenn die Kleine das Gesehene nicht richtig interpretieren kann, hat sie als Erwachsene eine Abneigung gegen Analsex). Zwar wurde die Affäre auf gewisse Weise von Ted eingefädelt, damit er einen Scheidungsgrund hat und Ruthie ihm zugesprochen wird, doch am Ende verlässt Marion ihn und ihre Tochter, nur die Fotos ihrer Söhne nimmt sie mit. Ihr Verschwinden verletzt nicht nur Ruth auf tiefste Weise, sondern auch Eddie, der in Marion die Liebe seines Lebens gefunden hat, die er über die Jahre vergebens wiederzufinden versucht.
30 Jahre später ist Ruth selbst eine erfolgreiche Autorin und recherchiert im Amsterdamer Rotlichtviertel für einen neuen Roman, als sie unfreiwillig Zeugin eines Prostituiertenmords wird. Außerdem trifft sie Eddie wieder, der nie über Marions Verschwinden hinweggekommen ist und sie in einem Autorenfoto auf einem Buchumschlag wiedererkannt zu haben meint – zufällig deckt sich die Handlung besagten Buchs auch mit Marions eigenen Erlebnissen. Ruth heiratet ihren Verleger und sie haben ein Kind, doch glücklich ist die Ehe nicht und in einer sehr hübschen Racheszene zahlt sie ihm alle Gemeinheiten mithilfe eines Hockeyschlägers heim. Als er später stirbt, ist Ruth endlich die „Witwe für ein Jahr“. In dieser Zeit lernt sie den Polizisten Harry kennen, der in dem Amsterdamer Mordfall ermittelte und durch einen verdeckten Hinweis von Ruth den Täter fassen konnte. Allzu lang sollte ihr Witwendasein also nicht dauern, und selbst für Eddie gibt es Hoffnung, dass sein Traum von einem Leben mit Marion noch in Erfüllung geht.
Der Umgang mit Trauer und Verlust, die komplizierten Beziehungen zwischen Vater und Tochter bzw. Tochter und einer Mutter, die sie verlassen hat (und die ihre Tochter nie richtig lieben konnte, aus Angst, auch sie zu verlieren), eine Sommeraffäre, die ein Leben prägt, und natürlich Sex – dies sind nur einige Themen dieses Romans, der wie alle Irving-Romane vor kuriosen Einfällen und interessanten Charakteren nur so strotzt. Ich las ihn in jeder freien Minute in den ersten Wochen der Sommerferien 2006 und am liebsten vor dem Schlafengehen. Es ist ein solches Vergnügen, der Geschichte beim Wachsen zuzusehen – eigentlich sind es sogar zwei Geschichten, in meinen Augen: eine über Ted, Marion, Eddie und den zwei toten Söhnen; und eine über die Autorin Rut Cole und ihre Bemühungen, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen (plus der Kriminalfall, in den sie noch verwickelt wird). Man weiß am Anfang nicht, was am Ende raus kommt, Irving ist eine absolute Wundertüte, und vielleicht ist es meine Angst, enttäuscht zu werden, die mich davon abhält, alle seine Bücher zu lesen… „Das Hotel New Hampshire“, ein Klassiker, fand ich gut und doch nicht so faszinierend wie „Witwe für ein Jahr“. Ganz zu schweigen von der „Vierten Hand“, meinem Lieblingsbuch von Irving, dessen Besprechung hier zu finden ist.