Es kommt nicht allzu oft vor, dass ich ein Buch so unbedingt lesen will wie dieses, im Buchladen darin blätterte und mich riesig freute, als es in der Bibliothek auslag. Und noch schöner ist es, dann nicht enttäuscht zu werden – ja, das Buch so toll zu finden, dass man es gleich an eine gute Freundin verschenken möchte. Außerdem habe ich mich sehr gefreut, dass es auch im Ausland gute Kritiken erhalten hat und dass es überhaupt ins Englische übersetzt wurde, denn da sich die widergespiegelte (Kultur-)Geschichte hauptsächlich auf den deutschsprachigen Raum konzentriert, mag sie für Amerikaner oder Briten weniger interessant sein. Andererseits war 1913 das kulturelle Zentrum der Welt eben Wien, hier waren die wichtigen Jugendstilmaler und Expressionisten, die Dichter, Dramatiker und Freud mit seinen bahnbrechenden Schriften zur menschlichen Psyche. Und wer nicht in Wien war, der war in Berlin oder München.
Illies‘ Buch beleuchtet dieses letzte Jahr der Ruhe vor dem Sturm, bevor aller Glanz, alle Dekadenz vom Krieg hinweg gespült wurde. Er tut dies in vielen, vielen kleinen Anekdoten. Monat für Monat stellt er wie in einem Bulletin alles Bemerkenswerte und Banale zusammen, ob Rilke jetzt einen Schnupfen hat, Mann im Theater sitzt oder der Kaiser auf die Jagd geht. Für manche Geschichten nimmt er sich mehr Zeit: So erzählt er detailliert von der Liebe zwischen Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn, die in jenem Jahr aufflammte, heftig loderte und ebenso schnell wieder zu Asche zerfiel. Oder er verdeutlicht die Obsession, die Kokoschka für Alma Mahler, diese legendäre Muse, empfand, als er sie immer wieder malte, allein, im Bett, im Doppelporträt mit ihm. Er erpresste sie geradezu, ihn zu heiraten, doch Alma hielt ihn hin und entschied sich am Ende für einen anderen, den Architekten Walter Gropius. Man leidet mit Kafka mit, der sich vorstellt, wie er von einem Selchermesser in viele kleine Scheiben geschnitten wird und dann ein Fuß eine dieser Scheiben in die Ecke schiebt… Im vergangenen Jahr hatte er sich in Felice Bauer verliebt, der er endlose Briefe schrieb, die eigentlich eher eine Anti-Werbung als eine Empfehlung für ihn waren – er ist ein unendlicher Zauderer, soll er sie nun wiedersehen oder nicht, und als er es zu Ostern doch nach Berlin schafft, sitzt er im Hotel und traut sich kaum, sie zu treffen. Dass es dennoch zu einer Verlobung kommt, grenzt an ein Wunder. Und dann hat Kafka in den Sommerferien so eine kleine Affäre, er erlebt ein beiläufiges, begrenztes Glück ohne die üblichen Komplikationen, da freut man sich richtig mit. Genau das macht dieses Buch so gut: Man erlebt all die Künstler, die sonst nur Namen und Werke sind, als Menschen, oft sehr neurotische, ängstliche, depressive Menschen – nicht immer, aber Trakl und Kafka schießen in dieser Hinsicht sicher den Vogel ab –, aber auch glückliche, verliebte, entspannt in den Urlaub fahrende Menschen. Man wird auf persönliche Weise mit ihnen bekannt.

Quelle: Fischer Verlage
Das Titelbild zeigt ein frühes Farbfoto und erinnert an die impressionistischen Gemälde Monets.
Vor allem versteht es Illies, glänzend zu unterhalten. Nie langweilt er, man liest immer noch eine Seite und noch eine und sammelt all dieses interessante, aber doch unnütze Wissen auf. Zum Beispiel die Tatsache, dass im Januar 1913 Stalin, Hitler und Tito alle zur gleichen Zeit in Wien waren, sich theoretisch im Park von Schloss Schönbrunn oder auf der Straße hätten treffen können, sich begegnet sind, ohne zu ahnen, wohin sie die Geschichte führen würde. Faszinierend. Oder eine Kunstauktion zu Gunsten der verarmten Else Lasker-Schüler, die von befreundeten Malern wie Franz Marc veranstaltet wurde und so wenig Interessenten anzog, dass sich die Künstler noch gegenzeitig ihre Werke abkauften – die Gemälde würden heute hunderte Millionen einbringen. Die spannende Wiederentdeckung der Mona Lisa und ihr Siegeszug zum berühmtesten Gemälde der Welt wird ebenfalls beleuchtet. Manche kritisieren die Beschränkung auf kulturelle Themen, Politik, Technik, die Situation der „normalen Leute“ wird quasi außen vorgelassen (oder nur am Rande gestreift, wenn Kirchner das Treiben am Potsdamer Platz verewigt). Auf Amazon wird es von enttäuschten Lesern als „Nummernrevue“ oder „Klatsch und Tratsch“ bezeichnet, ohne Tiefgang, ohne Hintergrundinformationen. Dies ist im gewissen Sinne richtig, man darf keine umfassende, vollständige historische Chronik des Jahres 1913 erwarten, dafür gibt es eine lange Liste an Sekundärliteratur, wenn man etwa über Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ oder das schwierige Gleichgewicht der Machtverhältnisse, das zum 1. Weltkrieg führen sollte, mehr erfahren möchte. Illies hat seine Grenzen schlau gesteckt, er will nicht ausufern, sondern geistreich unterhalten und vor allem vor Augen führen, auf welchem kulturellem Höhepunkt sich das deutsche bzw. österreichisch-ungarische Reich damals befand (und vielleicht die eine oder andere Geschichte für den nächsten Small-Talk liefern). Ich habe oft gelacht, vieles mit einem Lächeln im Gesicht gelesen und bin durch die Lektüre gewiss nicht dümmer als vorher geworden. Und das ist schon mal mehr, als mir viele andere Bücher geboten haben.
Übrigens darf man „Der Sommer des Jahrhunderts“ nicht wörtlich nehmen, ein „Jahrhundertsommer“ war es 1913 keinesfalls (auch wenn er zu Beginn des „Mann ohne Eigenschaften“ als warm und wolkenlos dargestellt wird) – im Gegenteil sehr kühl, verregnet und unerfreulich. Es konnte ja nicht alles genial sein.