Seit ich 2011 zum ersten Mal von diesem Buch gehört hatte, wollte ich es lesen, doch war dies erst nach meiner Übersiedlung nach England möglich: Kaum war ich in der Library angemeldet, hatte ich es schon ausgeliehen. Es ist ansprechend gestaltet, als dreibändiges Werk in einem Schuber und mit bonbonfarbenen Einbänden. Und der Titel „Skippy Dies“ bzw. „Skippy stirbt“ – im Deutschen aufgrund der Alliteration noch hübscher – wirft sogleich Fragen auf und verführt zum Lesen. Was ich dann mit Hingabe tat, am liebsten in der Frühsommersonne am Fluss.

Quelle: keeperofthesnails.blogspot.com
Die schöne Loreley
Besagter Skippy – eigentlich Daniel Juster, aber er scheint an das Buschkänguruh zu erinnern – stirbt also und zwar gleich zu Beginn des Buchs, auf dem Boden von Ed’s Doughnut House nach einem Wettessen; doch dies ist nicht die Todesursache. Der eigentliche Grund wird in den folgenden Rückblicken in den ersten zwei Bänden, „Hopeland“ und „Heartland“ aufgedeckt, bevor es im dritten Band „Ghostland“ um die Folgen und Auswirkungen dieses Unglücks geht. Die Geschichte spielt in einem irischen Internat für Jungen, Seabrooks, eine perfekte Bühne für alle typischen pubertären Ängste, Konfusionen und Konflikte. Zudem schafft Murray einige wirklich bemerkenswerte Charaktere, zum Beispiel Skippys übergewichtigen, nerdigen Mitbewohner Ruprecht (dessen Eltern angeblich tot sind, in Wirklichkeit schämt er sich nur für sie), seine teilweise sehr albernen, zu viel an Sex denkenden Freunde Mario, Dennis und Geoff, sowie das Lehrerpersonal: den sadistischen Father Green, der heimlich pädophile/homosexuelle Neigungen hat, den Schwimmlehrer, den ein Unfall einst verkrüppelte, und schließlich den Geschichtslehrer Howard, der eine Obsession für die schöne Aushilfe Aurelie entwickelt. Dieser Handlungsstrang fesselte mich fast am meisten, die Wucht von Howards Gefühlen und wie sie ihn dazu treiben, nach einem One-Night-Stand seine scheinbar sichere Beziehung aufzugeben, sind außerordentlich. Skippy macht derweil ähnliches durch: Er verliebt sich in die Schönheit der Nachbarschule, Loreley, genannt Lori. Sie scheint ihm eine Chance zu geben und spielt doch nur mit ihm, benutzt ihn auf ekelhafte Weise. Außerdem ist Skippys Mutter totkrank, er kann mit niemandem darüber reden und nach einem Vorfall beim letzten Schwimmwettbewerb, der erst am Ende offenbar wird, schluckt er immer häufiger Tabletten, um alles einfach zu vergessen. Ruprecht sucht derweil nach einer Tür zu Paralleleluniversen und schickt Nachrichten ins Weltall – auch eine Möglichkeit, der harten Realität zu entfliehen, wenn man 14 ist.

Quelle: us.macmillan.com
Eine hübsche Verpackung ist manchmal schon die halbe Miete
Der Roman ist ungeheuer vielschichtig und trotz der vielen Figuren wirkt keine davon blass oder eindimensional. Der Leser wird oft mitten in die Gedankenwelt und Vorstellungen von Personen versetzt (was z. B. bei einem aggressiven Junkie sehr beängstigend sein kann) und kann somit deren Handlungen besser nachvollziehen. Jede der handelnden Figuren hat mit Problemen zu kämpfen – auch scheinbar perfekte Menschen wie Lori, die an ihrem reichen Elternhaus erstickt, magersüchtig ist und ihr Heil in einer Beziehung mit dem bösen Buben (und Drogendealer) Carl sucht. Alles ist brüchig, selbst das traditionsreiche katholische Internat muss mit der Zeit gehen, und der neue Schuldirektor strebt mit aller Macht eine Modernisierung und Säkularisierung an. Vor allem erinnert Murray uns Erwachsene daran, welch unangenehmer – mitunter auch glorreicher, aber oft genug sehr einsamer, zynischer und trostloser – Lebensabschnitt die Pubertät ist. Sämtliche Kindheitsillusionen verflüchtigen sich. Wenn man selbst noch nicht so weit ist, kommen einen die anderen wie Zombies vor, in triebgesteuerte Wesen verwandelt, bis man eines Tages selbst zu einem solchen geworden ist. Die schlechte Nachricht: Es wird nicht besser, keiner der dargestellten Erwachsenen im Buch führt ein beneidenswertes oder gar erfülltes Leben, ganz im Gegenteil. Dass Murrays Roman dennoch keine durchweg deprimierende Lektüre ist, sondern die meiste Zeit sehr witzig und aufregend daher kommt, macht „Skippy Dies“ zu einem der unterhaltsamsten und intelligentesten Bücher, die mir in diesem Jahr untergekommen sind. Meine Vorfreude wurde nicht enttäuscht.
He flips open his wallet. ‘Read it and weep, boys. It is my lucky condom, which never fails.’
A silence, as Mario smugly returns his wallet to his pocket, and then, clearing his throat, Dennis says, ‘Uh, Mario, in what way exactly is there anything lucky about that condom?’
‘Never fails,’ Mario repeats, a little defensively.
‘But — ’ Dennis pinches his fingers to his nose, brow furrowed ‘ — I mean, if it was really a lucky condom, wouldn’t you have used it by now?’
‘How long have you had it in there, Mario?’ Geoff says.
‘Three years,’ Mario says.
Zufällig hatte ich nur zwei Monate vorher ein anderes Buch von Paul Murray gelesen, mit einem gleichfalls ungewöhnlichen Titel: „An Evening of Long Goodbyes“ (der Name eines Rennbahnhundes im Buch). Dieser verschlungene, ironische, verwirrende Roman beschreibt das kapriziöse Leben eines verwöhnten Industriellen-Söhnchens, der auf seinem Anwesen wie ein Medici-Prinz lebt und sich der Kunst der „sprezzatura“ (bei der man allem, was man tut, dem Anschein der Leichtigkeit und Mühelosigkeit gibt) widmet sowie Filme mit dem Hollywood-Starlet Gene Tierney ansieht, bis sich der vermeintliche Reichtum als leere Blase entpuppt und er in einem miesen Dubliner Viertel die Wohnung mit Prolls teilen und seinen Lebensunterhalt in einer Backfirma mit einem Haufen Letten verdienen muss. Gleichzeitig hat seine Haushälterin heimlich ihre ganze bosnische Familie im Haus einquartiert, und seine Mutter und Schwester wollen aus dem Anwesen ein alternatives Theater machen – in Charles‘ Leben geht also alles ziemlich den Bach runter, außerdem trinkt er zu viel und ist unglücklich verliebt. Ich glaube, die Lektüre wurde mir ein wenig durch Charles‘ heftige Abneigung gegen „Titanic“ (Jack und Rose bezeichnet er als „zwei tumbe Teenager“) vermiest, ansonsten war sie recht amüsant, wenn auch bisweilen überlang. Paul Murray ist auf jeden Fall ein Name, den man sich merken sollte.

Quelle: amazon.de
Bei flüchtigem Hinsehen sieht die Zahl auf dem Hundemantel wie ein Hakenkreuz aus o.O