„Die hellen Tage“ der ungarischstämmigen Autorin Zsuzsa Bánk erschien 2011, ich muss irgendwie durch die Leipziger Buchmesse darauf aufmerksam geworden sein, bzw. gibt es zu Messezeiten ja oft Literatursonderbeilagen in Zeitungen. Jedenfalls hatte ich den Roman „auf dem Schirm“ und wartete darauf, ihn in meiner Bücherei vorzufinden. Im Frühling 2012 war es dann soweit, eine gute Zeit für die Lektüre, obwohl der Sommer noch besser geeignet gewesen wäre.

Quelle: das-marburger.de
Denn der Roman ist vor allem eine nostalgische Erinnerung an Kindheitssommer in den 60er Jahren, die die drei Freunde Aja, Seri (eigentliche Therese) und Karl gemeinsam im kleinen Ort Kirschblüt nahe Heidelberg erleben. Aja ist die Tochter des ungarischen Zirkuskünstlers Zigi, der nur einmal im Jahr aus Amerika vorbeikommt, ansonsten wohnt sie allein mit ihrer Mutter Évi (frühere Seiltänzerin) in dem aus Brettern selbst gebauten Häuschen, ein fast schon magischer und anheimelnder Ort, zu dem alle Kinder gern kommen.
Ich kenne Aja, seit ich denken kann. Ich habe kaum eine Erinnerung an eine Zeit vor ihr, an ein Leben, in dem es sie nicht gegeben hat, keine Vorstellung, wie sie ausgesehen haben könnten, Tage ohne Aja. Aja gefiel mir sofort. Sie sprach laut und deutlich und kannte Wörter wie Wanderzirkus und Schellenkranz. Zwischen anderen sah sie winzig aus, mit ihren kleinen Händen und Füßen, und als müsse sie dem etwas entgegensetzen, sprach sie in langen Sätzen, denen kaum jemand folgte, als wolle sie beweisen, dass sie laut reden konnte, ohne Pause und ohne Fehler. Sie zog in dem Jahr zu uns, in dem für uns Kinder nichts lustiger war, als unsere Namen rückwärts aufzusagen und uns laut Retep oder Itteb zu rufen. Aja hieß immer nur Aja. (Leseprobe)
Diese Sommer sind die „hellen Tage“, an denen sie im See baden, Feste feiern, durch Wiesen stromern und Zigis Kunststücke bewundern, wenn er denn gerade einmal da ist. Karl muss damit klar kommen, dass sein Bruder verschwunden ist und nie gefunden wurde, Seri den frühen Tod ihres Vaters verarbeiten. Auf diese Weise rücken auch die Mütter der drei Kinder enger zusammen, weil sie alle Trost und gegenseitige Unterstützung brauchen. Es sind gute Jahre der Freundschaft, die vermeintlich nichts auseinanderbringen könnte – bis das Erwachsenwerden die üblichen Komplikationen bringt.
Wir ließen die hellen Tage hinter uns, in denen wir leicht durch die Minuten und Stunden gesprungen waren, uns im Kreis immerzu nur um uns selbst gedreht hatten, in unserer winzigen, fest abgesteckten Welt zwischen Évis Garten, dem Schultor, dem Glockenschlag des Kirchturms und den Wegen hinaus zu den Erdbeerfeldern, wo unsere Blicke nie über die Ränder gereicht hatten. Nie hatten wir uns um etwas kümmern müssen, weil sich diese Welt auch ohne unser Zutun im selben Takt, mit demselben Klang ununterbrochen weiterbewegt hatte.
Auf Studium und Ausbildung folgt ein Leben zu dritt in Rom, wo es im Sommer ebenfalls flirrend heiß wird und wohin Seris Vater seine letzte Reise unternahm, bevor er an einem Herzinfarkt starb. Aja will Ärztin werden, Karl fotografiert und Seri betätigt sich als Übersetzerin. Die Liebe und das Auftauchen mancher Geheimnisse droht, zwischen die drei zu kommen, aber als es Évi schlechter zu gehen beginnt, halten alle, Eltern und Kinder, zusammen und es gelingt Aja sogar, Zigi zum Bleiben zu überreden.
Die Geschichte wird von Seri erzählt, über die man demzufolge am wenigsten erfährt. Ihre Beschreibungen sind bildhaft und sinnlich, das Geschehen läuft wie abgetrennt von der restlichen Welt. Man fühlt diese Sommer und die folgende Härte des Winters (wenn sie sich nicht mit Schlittschuhlaufen vergnügen, worin Aja familienbedingt eine Meisterin ist) richtig mit und es ist ein großes Vergnügen, den Figuren in ihrer Entwicklung zu beobachten, wie sie Krisen meistern und Wunden wie z. B. zwei abgetrennte Finger nicht mehr spüren. Die scheinbar unbeschwerte Zeit – in die aber auch das Böse einbrechen kann, siehe Karls verschwundenen Bruder – wird lebendig und sei es nur durch Kleinigkeiten wie einem Schlager: „Wunderbares Mädchen, hast mich schon am Fädchen, hast mich schon am Gängelband…“ (ich musste erst nachsehen, dass es sich dabei um die von Peter Alexander gesungene deutsche Fassung von „Catch A Falling Star“ handelt). Zigis Geschichte, wie er mit Évi und der kleinen Aja aus Ungarn floh – sie schliefen im Wald, das Baby in einem Koffer als Bettchen – klingt fast wie ein Märchen, trotz des ernsten Hintergrunds. „An der Honiggrenze“ zum Kitsch nennt ein FAZ-Rezensent diese kindliche Idylle, aber das störte mich nicht, nur fällt die zweite Hälfte mit den erwachsenen Freunden spürbar ab gegenüber der ersten. Aber dies ist im wirklichen Leben ja auch oft so, dass einem die Kindheit wie eine goldene, immer sonnige Zeit vorkommt, die von den späteren Ereignissen und Enthüllungen zerstört wird und an die man sich umso lieber erinnert. Oder geht das nur mir so? Man muss sich von dem Buch einfach verzaubern lassen, besonders von Aja, dem unbestrittenen Mittelpunkt der Handlung und der Aufmerksamkeit aller. Wie sie übers Seil oder Eis tanzt, Räder schlägt und von Seri verewigt wird.
Wir müssen uns im Sommer begegnet sein, im Sommer, der Aja umgab, als gehöre er ihr, als gehörten sein Licht, sein Staub, seine langen hellen Abende ihr, und durch den sie sich ohne Jacke und Schuhe, mit einem gelben Hut, den sie im Schrank ihrer Mutter gefunden hatte, bewegte wie durch ein großes, lichtes Haus, dessen Zimmer ohne Türen ineinanderliefen. Wir küssten und umarmten uns schnell, wie Mädchen es häufig tun, auch wenn es Aja sonst mit niemandem tat, auch später nicht, und wir ließen nicht mehr voneinander, auch wenn ich nicht weiß, warum Aja ausgerechnet mich aussuchte, mich einlud und in ihr Leben bat, ein Leben, das anders war als alles, was mir zuvor begegnet war, anders als alles, was ich kannte, und das mir fern erschien, größer und weiter als meines, und sich abspielte an einem Ort ohne Zeit und Grenzen. Ich weiß nicht, was es war, das sie in meine Nähe drängte, an anderen vorbei zu mir schob und an mich band, was es überhaupt sein kann, das uns dazu bringt, uns füreinander zu entscheiden. War es meine Art, über Wiesen zu springen, einen Stein übers Wasser zu werfen, ein Lied zu singen, oder war es nur, weil es sonst niemanden gab, der den Platz neben Aja hätte einnehmen können, in diesen Tagen, an diesem Ort? Sind wir bloß zusammengeblieben, weil auch später niemand kam, der mich hätte ablösen können? Ich habe Aja nie danach gefragt, und heute spielt es keine Rolle mehr. Heute sind wir, wer wir sind, und wir fragen nicht danach, wir suchen nicht nach Gründen.