Ein Monat - ein Buch

September 2013: John Fowles – The French Lieutenant’s Woman

Auf dieses Buch machte mich Nick Rennison in seinen „100 Must-Read Historical Novels“ neugierig. Dieser sogenannte „postmoderne“ historische Roman unterscheidet sich von der üblichen Kost durch Reflektionen und Einschübe des Autors sowie mehrerer angedeuteter Handlungsentwicklungen inklusive drei optionaler Enden – wie in einer Versuchsanordnung spielt Fowles die Möglichkeiten durch. Er gesteht seinen Figuren eine Selbstständigkeit zu, sie scheinen ihm quasi über den Kopf zu wachsen und ihren eigenen Willen zu haben.

If I have pretended until now to know my characters’ minds and innermost thoughts, it is because I am writing in (just as I have assumed some of the vocabulary and ‘voice’ of) a convention universally accepted at the time of my story: that the novelist stands next to God. He may not know it all, yet he tries to pretend that he does.

Gleichzeitig werden bestimmte typische Themen, Grundsätze oder Szenen eines viktorianischen Romans mit dem Blick des 20. Jahrhunderts zitiert und parodiert.

Die titelgebende „Geliebte des französischen Leutnants“ (so der deutsche Titel) heißt Sarah Woodruff. In dem englischen Küstenort Lyme Regis sorgt sie für einen Skandal, als sie – eine gefallene Frau, die bei ihrer Arbeit als Gouvernante einen schiffbrüchigen Franzosen kennenlernte und sich offenbar von ihm verführen ließ – als Gesellschafterin bei einer strengen alten Dame einzieht, die Angst vor der Hölle hat und deshalb mit dieser Mitleidsgeste ihre Seele retten will. Sie wird oft gesehen, wie sie schwarz gekleidet allein am Strand spazieren geht und wird von allen gemieden, wohl auch für leicht verrückt gehalten. Sie weckt die Aufmerksamkeit des Gentlemans Charles Smithson, der seine Verlobte Ernestina besucht. Der Darwinist Charles interessiert sich für Meeresfossilien und ist deshalb ebenfalls oft an der Küste unterwegs, so kommt es zu mehreren zufälligen Treffen und von den wenigen Wortwechseln und Blicken fühlt Charles eine wachsende Faszination für die mysteriöse Frau, die so ganz anders als die wohlerzogene viktorianische Dame ist (freiheitsliebend, selbstbestimmt, mit dem Anflug der Verruchtheit), vor allem als seine Verlobte. Ernestina ist schön, aber noch sehr jung, arglos und ohne jegliche Erfahrung in Liebesdingen. Der junge Mann weiß, dass er einen gefährlichen Weg nimmt und kann doch nicht anders, trotz der dringenden Vorhaltungen seines Freunds Dr Grogan. Er weiß nur, dass seine vorgeschriebene Laufbahn ihn langweilt und er etwas anderes will.

Under this swarm of waspish self-inquiries he began to feel sorry for himself – a brilliant man trapped, a Byron tamed; and his mind wandered back to Sarah, to visual images, attempts to recollect that face, that mouth, that generous mouth. Undoubtedly it awoke some memory in him, too tenuous, perhaps too general, to trace to any source in his past; but it unsettled him and haunted him, by calling to some hidden self he hardly knew existed. He said it to himself: It is the stupidest thing, but that girl attracts me. It seemed clear to him that it was not Sarah in herself who attracted him – how could she, he was betrothed – but some emotion, some possibility she symbolized. She made him aware of a deprivation. His future had always seemed to him of vast potential; and now suddenly it was a fixed voyage to a known place. She had reminded him of that.

Derweil ist die Romanze, die sich zwischen seinem Diener Sam und Ernestinas Hausmädchen Mary anbahnt, viel einfacher und unbeschwerter (wie uns Fowles verrät, gibt es so etwas wie „unschuldige Mädchen von Land“ nicht – nicht, wenn zehn Personen in einer kleinen Hütte leben). Sam ist ein typisches Beispiel für einen Londoner Jungen aus der Arbeiter- und Dienstbotenklasse. Er bekommt viel mehr mit als seinem Herrn lieb sein kann und macht sich dies geschickt zunutze, um seine Ambitionen, ein Modegeschäft zu eröffnen, zu verwirklichen.

Quelle: 101books.net

Dieser Blog, von dem die Abbildung stammt, ist sehr lesenswert, ein Amerikaner schreibt über seine Leseerfahrungen mit der Liste „100 Greatest Novels since 1923“ vom Time Magazine

Das erste mögliche – aber sehr unbefriedigende und heuchlerische – Ende ist, dass sich Charles von seiner Leidenschaft für Sarah löst, sie nicht wie geplant in Exeter trifft und dafür ratzfatz Ernestina heiratet. Nein, so nicht. Dann geht die Geschichte von ihrem Entscheidungspunkt aus in eine andere Richtung, nachdem der Erzähler höchstselbst in einem Eisenbahnabteil eine Münze geworfen hat: Charles trifft Sarah in Exeter, er redet sich ein, dass alles kurz und gesittet ablaufen wird und natürlich landen sie dann doch im Bett. Jubilate! Zwar entpuppt sich Sarah nicht als das Luder, wofür sie alle halten, doch Charles gesteht sich endlich seine Liebe zu ihr ein und löst seine Verlobung. Der Brief, den er daraufhin an Sarah schreibt, kommt jedoch nicht an – Sam, du verdammtes A…! So haben sie vorerst kein Happy End, Charles muss vor der Schande nach der Verlobungsauflösung aus dem Land fliehen und lässt dennoch weiter nach seiner Liebsten suchen. Sie wird gefunden und es folgt Ende 2, in harmonisch und hoffnungsvoll. Anschließend gibt es noch einen weiteren Dreh und man liest Option 3, die am realistischsten ist, aber deprimierend. Warum sollte Sarah auch ihre neu gefundene Selbstständigkeit und ihr künstlerisches Leben für Charles aufgeben? Nur damit der Leser seinen kitschigen Schluss bekommt?

Ein hochintelligenter und dabei ungemein spannender, anregender Lesestoff, bei dem man sehr viel über das Leben und Denken im viktorianischen England lernt. Manches Klischee wird widerlegt, eher vernachlässigte Aspekte beleuchtet und trotz der vielen Einschübe und Spielchen eine gute Liebesgeschichte erzählt – Leseherz, was willst du mehr!

There are some men who are consoled by the idea that there are women less attractive than their wives; and others who are haunted by the knowledge that there are more attractive.

NB: Offensichtlich fühlte sich A. S. Byatt von Fowles zu ihrem Erfolgsbuch „Possessioninspiriert und tatsächlich liebe ich die Art beider Romane, hervorragend zu unterhalten und einen trotzdem geistig nicht zu unterfordern. Und natürlich gehört die Viktorianische Epoche, in der sie spielen, zu meinen literarisch bevorzugten.

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