Diesen Roman las ich über den Jahreswechsel, das Taschenbuchformat eignete sich gut für die begrenzte Kapazität, wenn man nur mit Handgepäck (sprich einem Rucksack) fliegt. Und er stand auf meiner Leseliste als Empfehlung von Rolf Vollmann – normalerweise mag ich keine fremdsprachigen Bücher in einer anderen Übersetzung als meiner Muttersprache lesen (denn wenn sie auf Englisch sind, muss ich sie ja auf gewisse Weise auch übersetzen, wodurch wieder etwas verloren geht), aber hier machte ich mal eine Ausnahme. So einen Zufallsfund muss man ausnutzen.

Quelle: goodreads.com
Für die Erscheinungszeit im Jahr 1835 hat das Werk (unter dem Mantel des historischen Romans) ein recht gewagtes Thema: Homoerotik und Cross-Dressing. Ein vornehmer französischer Lebemann sucht unter allen Frauen sein Ideal, seine perfekte Geliebte, ist nie zufrieden und wird deshalb fast wahnsinnig. Zur Überbrückung nimmt er sich eine reizende junge Witwe, die ihn zwar zu beglücken versteht (sie lassen sich diverse Spielchen einfallen, z. B. eines, bei dem er in einem Bärenkostüm steckt), die seinem Wunschbild aber nicht absolut entspricht. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis er sie wieder verlässt. Allerdings bildet sich d’Albert ein, Rosette wäre unsterblich in ihn verliebt. Er weiß nicht, dass ihr Herz längst von einem anderen erobert wurde: Einem schönen Unbekannten, der als Freund von Rosettes Bruder auf ihren Landsitz kam und den sie auf Teufel komm raus mit allen weiblichen Tricks zu bezirzen und verführen sucht. Théodore wehrt sich jedoch standhaft, denn pikanterweise handelt es sich bei ihm um keinen Mann, sondern um eine verkleidete Frau, eben jene Mademoiselle de Maupin. Als d’Albert ihn bzw. sie kennenlernt, fühlt er sich sofort hingezogen, zum ersten Mal glaubt er, sein Ideal gefunden zu haben – nur ist seine Verwirrung umso größer, dass dieses zum männlichen, nicht zum weiblichen Geschlecht gehört. Seine sexuelle Orientierung wird kräftig durchgeschüttelt, als er bekennen muss: „Ich liebe einen Mann!“ Dann ist natürlich alles halb so wild, als bei den Proben für das Shakespeare-Stück „Wie es euch gefällt“, in dem „Théodore“ eine Frau in Männerkleidung spielt – welch Ironie des Schicksals –, sie sich erstmals seit langem wieder in einem Kleid zeigt, wodurch d’Albert sofort erkennt, dass dies ihre natürliche Robe ist (wahrscheinlich auch, weil sie ihren Busen darin nicht verstecken kann). Nach einigen weiteren Verwicklungen und Hin und Her erbarmt sich Mademoiselle dann ihres heißblütigen Verehrers, auch weil sie als Jungfrau schon lange eine Neugier verspürt, was es mit der Liebe eigentlich auf sich hat. Gerade deshalb hatte sie auch den waghalsigen Entschluss gefasst, sich als Mann zu verkleiden: um die wahre Natur der Männer zu erkunden und zu sehen, ob sie ihrer Liebe überhaupt würdig sind. Die geneigte Leserin ahnt schon, wie ihr Urteil ausfallen wird … Madeleine erkennt aber außerdem, wie viel Spaß typisch männliche Beschäftigungen wie Säbelduelle und Ausritte zu Pferde (ohne diese albernen Damensattel) machen, und wie schlecht Frauen in der Gesellschaft dran sind. Und sie lernt die Reize ihres eigenen Geschlechts zu schätzen, mit freundlicher Hilfe von Rosette, in deren Bett sie wechselt, nachdem sie D’Alberts verlassen hat. Kein Wunder, dass das Buch bestimmte Kreise empörte, selbst wenn ich im Vorwort las, dass lesbische Beziehungen in erotischer Literatur nicht selten waren – die Andeutung von Gefühlen zwischen Männern dagegen schon. Gegen die Vorwürfe der Unmoral und die zahlreichen Kritiker mit ihrer Doppelmoral wehrt sich Gautier in einem längeren Vorwort.
Die Geschichte wird in Briefen dargeboten: Im ersten Teil schreibt d’Albert an einen Freund namens Silvio über seine Verzweiflung und Langeweile sowie seine nicht vollständig erfüllende Affäre mit Rosette, im folgenden Madeleine an eine Freundin über ihre Erlebnisse in der Männerwelt. Dann wechseln sich die Berichte ab, aber Madeleine hat das letzte Wort, als sie beide Geliebten zurücklässt und sich um einige Erfahrung reicher in ihrer alten Verkleidung wieder in die Welt stürzt. Während der Lektüre habe ich mich oft gefragt, ob Oscar Wilde das Buch kannte – als Frankophiler ist dies mehr als wahrscheinlich, und manche Passagen von Gautier könnten auch in „Dorian Gray“ oder andere, ähnlich dekadente Romane passen, in denen die Schönheit von Jünglingen gepriesen wird.
How handsome he was, and how marvellously his dark and pale head was set off by the purple tint ! Two great clusters of black, lustrous hair, like the grape-bunches of the ancient Erigone, hung gracefully down his cheeks, and framed in a most charming manner the correct delicate oval of his beautiful face. His round neck was entirely bare, and he had on a dressing-gown with broad sleeves which was tolerably like a woman’s dress. In his hand he held a yellow tulip, picking it pitilessly to pieces in his reverie and throwing the fragments to the wind.
With his long hair stirred softly by the breeze, his marble neck thus uncovered, his ample robe clasped around his waist, and his beautiful hands issuing from their ruffles like the pistils of a flower from the midst of their petals, he looked not the handsomest of men but the most beautiful of women, and I said in my heart ‚ It is a woman, oh! it is a woman!‘
Der krönende Schluss ist wirklich köstlich und hat in den 180 Jahren seit Erscheinen nichts von seinem Reiz verloren – ach ja, die alten universalen Themen Love and Sex werden nie aufhören, uns zu fesseln. Und das überraschende Ende, Madeleines Entschluss entgegen aller Erwartungen, bis auf weiteres keine Frau sein zu wollen, sondern ein rätselhaftes Zwitterwesen, anziehend für beide Geschlechter gleichermaßen, ist höchst ungewöhnlich für ein Buch dieser Zeit. Da ich keine engagierte Feministin bin, enttäuschte mich der Ausgang ein wenig – kein klassisches Happy End, keine Bekehrung von Madeleine hin zu einem konventionellen Leben mit d’Albert –, aber er ist konsequent und mutig und daher der Geschichte absolut angemessen. Ich schätze, dass es im Original noch frivoler und dekadenter anmutet (Französisch scheint für solche Themen wie geschaffen zu sein), aber die englische Übersetzung war tadellos und brachte das historische Flair des 17. Jahrhunderts mit zahlreichen Anspielungen auf die klassische Antike sehr gut zur Geltung, ohne die skandalösen Elemente aus der Entstehungszeit im 19. Jahrhundert zu vernachlässigen. Ich habe die Lektüre auf jeden Fall mehr genossen, als ich mir anfangs erhofft hatte.