Obwohl ich persönlich wohl nicht mit ihm klar käme – vernunftsbetont und gefühlskalt, wie er sich oft zeigt –, gehört Sherlock Holmes mit Sicherheit zu meinen liebsten literarischen Charakteren. Sein enormes logisches Denkvermögen und seine deduktiven Methoden, mit denen er die unwahrscheinlichsten Rätsel löst, nötigen mir einfach höchste Bewunderung ab. Sherlock Holmes‘ Fälle sind nicht zum Mitraten geeignet. Dafür erhält der Leser zu wenige Informationen, denn oft genug verrät der Detektiv nicht seinen aktuellen Ermittlungsstand oder das Ergebnis seiner Nachforschungen: erst zum krönenden Abschluss präsentiert er Watson (und dem verblüfften Publikum) die überraschende Aufklärung und entlarvt auch den raffiniertesten Täter. Oft ist er aber am Festsetzen des Übeltäters gar nicht mehr sonderlich interessiert, es ist vielmehr das intellektuelle Kräftemessen mit seinen Widersachern, das Holmes an seiner Tätigkeit reizt. Und wenn er am Ende die Fäden seiner Gedankengänge aufdrieselt und zeigt, wie er zur Lösung gekommen ist, kann man seiner Genialität nur Respekt zollen – natürlich ist Sherlock ein Angeber und stolz auf sein Können, aber wer wäre das nicht? Dagegen erscheint sein Chronist Doktor Watson stets etwas unholfen, nicht gerade dumm, aber eben nur mit durchschnittlicher Auffassungsgabe gesegnet. Er ist wie der Leser, der staunend und fast ehrfürchtig dem Meister bei der Arbeit zusieht und trotzdem bis zum Schluss nicht schlauer ist.

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Diese Illustatration von Klaus Ensikat hat meine Vorstellung von Holmes geprägt – besonders die langen dünnen Finger faszinierten mich
Meine erste Begegnung mit dem Größten aller Detektive war in Sammelbänden aus der Kinderbücherei: „Fünf Fälle des Sherlock Holmes“ aus dem Kinderbuchverlag Berlin – u. a. mit „Das gefleckte Band“ und „Der Fall Thor-Brücke“ – sowie „Sherlock Holmes, London, Baker Street 221“ aus dem Verlag Das Neue Berlin. Letzterer enthält etliche klassische Geschichten wie „Ein Skandal in Bohemia“ (wo die einzige Frau, für die Holmes je so etwas wie Verehrung empfand, ihren Auftritt hat: Irene Adler), „Die Liga der Rothaarigen“, „Fünf Apfelsinenkerne“ und „Die tanzenden Männchen“ (sicher eine meiner Lieblings-Storys, die Geheimschrift kann man mit etwas Mühe sogar selbst entschlüsseln). Man erhält ein gutes Bild von Holmes at home, wie er auf seiner Geige improvisiert, gelegentlich Opium und Kokain konsumiert und den Pfeifentabak im Pantoffel aufbewahrt, während er den Großteil seiner Überlegungen in seinem Lehnstuhl anstellt; Tatortbesuche dienen oft nur zur Klärung von Details oder für praktische Experimente (wie in „Das Musgrave-Ritual“). Wie sich in „Der Mann mit dem schiefen Mund“ zeigt, ist er jedoch auch gut in Undercover-Ermittlungen und verfügt sogar über einiges Talent als Boxer (siehe „Die einsame Radfahrerin“). Überhaupt merkt man dem hageren Mann seine Kraft und Energie nicht auf den ersten Blick an. Und nur wer ihn so gut kennt wie der treue Freund Watson weiß, dass er durchaus herzlich und fürsorglich sein kann. Wer übrigens eine umfassende Beschreibung des Charakters, der Karriere und aller Macken des Meisterdetektivs sucht, dem kann ich die „Unautorisierte Biographie“ von Nick Rennison ans Herz legen: Dort wird einem auch Holmes‘ Bruder Mycroft wieder ins Gedächtnis gerufen, der in vier Fällen seinen Kurzauftritt hat und anscheinend über eben so große geistige Fähigkeiten verfügt, dem aber der Ehrgeiz oder das Interesse fehlt, diese dem Kampf gegen das Verbrechen zu widmen.
Schnell wurde ich geradezu süchtig nach neuen Fällen, sie lesen sich schnell, sind spannend und die Aufklärung ist jedes Mal faszinierend. Ich erinnere mich, wie ich „Das Notizbuch des Sherlock Holmes“ bei einem der ungeliebten Spaßbadbesuche las, als vergeblich versucht wurde, mir das Schwimmen beizubringen. Da muss ich 13 gewesen sein. Einer meiner Hauptgründe in diesem Alter, warum ich mich so auf den Wechsel von der Kinder- in die Erwachsenenbibliothek freute, war der dortige Bestand an Sherlock-Holmes-Bänden: eine komplette Werkausgabe aus dem Züricher Haffmans Verlag, neu übersetzt u. a. von Gisbert Haefs. Ein, zwei Jahre zuvor hatte ich bei einem Besuch mit der Klasse die strenge Bibliothekarin gebeten, mir ein Buch davon auszuleihen, was ich auch durfte, weil ich bereits in der Kinderbücherei angemeldet war. Und im Juli 2002 konnte ich dann auch die übrigen Exemplare aus der Reihe nach Hause tragen – merkwürdigerweise ließ ich dabei allerdings „Der Hund der Baskervilles“ aus, einen der berühmtesten Holmes-Fälle überhaupt. Diese Geschichte las ich erst in vor einigen Wochen für meinen Book Club; irgendwie hatte ich immer gedacht, es würde sich um keinen echten Hund handeln, sondern um eine Art Attrappe oder Schattenspiel, aber das furchteinflößende Wesen ist wirklich lebendig. Zudem nahm ich mir nach 10 Jahren noch mal „Eine Studie in Scharlach“ vor, die allererste Holmes-Geschichte, sogar in Romanlänge (wie „Der Hund der Baskervilles“, „Das Zeichen der Vier“ und „Das Tal der Angst“). Hier erfährt der Leser, wie sich Doktor Watson und Holmes über einen gemeinsamen Freund kennenlernen – typischerweise verblüfft Holmes den Doktor gleich beim ersten Treffen, als er nach kurzer Musterung sagt: „Sie waren in Afghanistan, nicht wahr?“, – eine Zweier-Junggesellen-WG in der Baker Street gründen und Watson allmählich in die merkwürdige Tätigkeit seines Mitbewohners eingeweiht wird. Ich hatte mich vorher einige Jahre nicht mehr mit Holmes beschäftigt, wozu auch, ich kannte ja alle Fälle und wenn man die Auflösung einmal weiß, macht das Lesen nur noch halb so viel Spaß. Allerdings hatte ich mit in Lancaster „The Case-Book of S. H.“ ausgeliehen, einfach, um neben all der anspruchsvollen Literatur etwas leichtes und vergnügliches zu haben. In dieser Zeit, während eines Ausflugs nach London, besuchte ich auch das „Sherlock Holmes Museum“, das sich natürlich in der (früher fiktiven Adresse) 221B Baker Street befindet. Die U-Bahn-Station Baker Street ist übrigens mit Kacheln verziert, auf denen seine typische Silhoutte prangt, und am Eingang der Station steht er höchstpersönlich, aus Bronze gegossen und 3 Meter groß.
Eigentlich wollte ich an dem Tag zu Madame Tussaud’s – doch angesichts des saftigen Eintritts erwies ich lieber meinem alten Freund Holmes die Ehre und bin bis heute der Meinung, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

Nur wenige Meter daneben befindet sich übrigens ein Beatles Shop – ein weiterer Grund, die Baker Street zu besuchen…
Der Mythos lebt auf jeden Fall fort und angesichts der zahlreichen Filme und Serien, die in den letzten Jahren gedreht wurden und die oft nur noch entfernt an das Original erinnern, sieht es nicht so aus, als ob sein Stern bald verblassen würde. Holmes ist eben einfach nicht totzukriegen, wie schon sein Erfinder Arthur Conan Doyle feststellen musste, als er die Figur in „Der letzte Fall“ kurzerhand im Gebirge abstürzen lässt – die öffentliche Empörung führte bald zu seiner wundersamen Auferstehung. Vermutlich kennen ihn die meisten heute eher vom Bildschirm oder durch andere Bücher statt aus Doyles Geschichten – Sherlock ist eben ein Teil der Populärkultur geworden, es braucht nur eine Pfeife und eine Deerstalker-Mütze und jeder weiß, wer gemeint ist. Bei einer rein fiktiven Person ist das ziemlich beachtlich. Ich habe so das Gefühl, dass ich jetzt, da ich wieder in seine Welt eingetaucht bin, noch einige andere seiner Abenteuer wiederlesen werde, einfach weil es ein solches Vergnügen ist, Holmes beim Deduzieren und Lösen auch der skurillsten Fälle zu erleben. Elementary.
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!["I have always held, too, that pistol practice should be distinctly an openair pastime; and when Holmes, in one of his queer humors, would sit in an arm-chair with his hairtrigger and a hundred Boxer cartridges, and proceed to adorn the opposite wall with a patriotic V. R. [für Victoria Regina] done in bullet-pocks, I felt strongly that neither the atmosphere nor the appearance of our room was improved by it."](https://annesleselisten.files.wordpress.com/2014/05/dsci1098.jpg?w=610&h=457)
„I have always held, too,
that pistol practice should be distinctly an open air
pastime; and when Holmes, in one of his queer
humors, would sit in an arm-chair with his hairtrigger
and a hundred Boxer cartridges, and proceed
to adorn the opposite wall with a patriotic V.
R. [für Victoria Regina] done in bullet-pocks, I felt strongly that neither
the atmosphere nor the appearance of our room
was improved by it.“