Auf gewisse Weise haben mich Entdecker immer interessiert, diese unerschrockenen Helden, die so leichtsinnig ihr Leben aufs Spiel setzten, nur um die Grenzen der bekannten Welt zu erweitern, weiße Flecken auf der Landkarte zu tilgen und unbedingt als erster an den Ufern eines vorher nicht kartografierten Flusses oder auf dem Gipfel eines Berges stehen wollten. Um ihm vielleicht ihren eigenen Namen zu geben und sich dadurch unsterblich zu machen. Oder einfach nur Ruhm und jede Menge Gold suchten. Diese Mischung aus Ehrgeiz, Neugier und Abenteuerlust ließ sie nicht ruhen, bis sie die Quelle des Nils gefunden hatten, überzeugt waren, dass es den mystischen Südkontinent Terra Australis Incognita nicht gab oder die Flagge ihres Landes am Südpol aufpflanzen konnten. Über ihre Irrfahrten und mühsamen Reisen las ich im „Atlas der großen Entdecker“, ein Buch, das mich jahrelang beschäftigte und faszinierte. Dort las ich auch zum ersten Mal von Sir John Franklin, dessen Leben Sten Nadolny zu dem wunderbaren Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ inspirierte.

Quelle: amazon.de
Der Titel bezieht sich auf Franklins verminderte Reaktionsfähigkeit, die schon in der ersten Szene verdeutlicht wird, als die Dorfkinder Ball spielen und er ihn einfach nicht kommen sieht. Allerdings kann er dafür die Schnur für das Spiel halten, ganz ruhig und sicher. Seine Langsamkeit macht ihn natürlich zu einem Außenseiter und Sonderling. Sie sollte eigentlich auch ein Hinderungsgrund für eine Karriere bei der Marine sein, doch mit Beharrlichkeit und Gründlichkeit zeichnet er sich unter anderem in der Schlacht vor Trafalgar aus. Er versucht, seinen Makel etwa durch genaues Einprägen seiner Umgebung und aller Gegebenheiten oder das Vorhersehen bestimmter Handlungen seines Gegenübers auszugleichen.
John Franklin saß im Kerker. Er hatte einen, der sich ungeduldig abwandte und den Rest seiner Antwort nicht mehr hören wollte, einfach gepackt und festgehalten, ohne genügend zu bedenken, dass es sich um Burnaby handelte. Ich kann nichts loslassen, hatte John daraus gefolgert, kein Bild, keinen Menschen und keinen Lehrer. Burnaby hingegen hatte gefolgert, dass John schwer bestraft werden müsse.
Der Kerker war die schwerste Strafe. Für John Franklin nicht, der konnte warten wie eine Spinne. Wenn er nur etwas zu lesen gehabt hätte! Inzwischen liebte er Bücher aller Art. Papier konnte warten und drängte nicht. Gulliver kannte er, Robinson und Spavens’ Biographie, neuerdings auch Roderick Random. Eben wäre dem armen Jack Rattlin beinahe das gebrochene Bein abgesägt worden. Der unfähige Schiffsarzt Mackshane, wahrscheinlich ein heimlicher Katholik, hatte schon die Aderpresse angesetzt, da war ihm Roderick Random in den Arm gefallen. Mit giftigem Blick hatte der Pfuscher das Feld geräumt, sechs Wochen später war Jack Rattlin auf zwei gesunden Beinen wieder zum Dienst erschienen. Ein gutes Argument gegen alle voreiligen Maßnahmen. „Es gibt drei Zeitpunkte, einen richtigen, einen verpassten und einen verfrühten.“ Das wollte John ins Heft schreiben, wenn er hier wieder heraus war.
Beim Angriff auf New Orleans erleidet Franklin eine schwere Kopfverletzung, die später von anderen allgemein als Ursache seiner Langsamkeit betrachtet wird. Anschließend verlebt er einige Jahre an Land und versucht sich erfolglos als Redakteur einer Zeitung, bevor er 1818 seine erste Expedition in die Gewässer des Nordpolarmeers beginnt, bei der wie auch auf späteren Fahrten die berüchtigte Nordwestpassage gefunden werden soll, ein Seeweg nördlich von Kanada vom Atlantik in den Pazifik (als Alternative zum weiten Weg um Kap Hoorn herum, lange die einzige Seeroute zwischen den Ozeanen vor dem Bau des Panamakanals). Zu diesem Zweck erkunden sie die Nordküste Kanadas und den Coppermore-Fluss. Das Unternehmen wird ein mittelschweres Desaster, aufgrund von Fehlplanungen und Unzuverlässigkeiten sterben über die Hälfte der Männer an Erschöpfung und Hunger (sie müssen sich teilweise von Flechten ernähren) bzw. tötet einer von ihnen einige der anderen als persönliche „Fleischversorgung“. Der Rest verdankt sein Überleben nur der Hilfsbereitschaft von Indianern. – Dieser Teil des Romans liest sich denkbar spannend und dramatisch und solche Extremsituationen sind natürlich gerade aus psychologischer Sicht auch sehr interessant. – Trotz dieses ungleich schlechten Verlaufs wird Franklin mit der Leitung einer weiteren Kanada-Expedition betraut, die zwar weniger spektakulär verläuft, aber auch nicht den gewünschten Erfolg bringt. Scheinbar hat Franklin jetzt vorerst die Nase voll von kalten Orten, er heiratet zum zweiten Mal – die resolute Jane, später Lady Franklin – und wird Gouverneur von Tasmanien, damals noch Van Diemen’s Land. Dort macht er sich ziemlich unbeliebt mit seinen Versuchen, u. a. die Zustände in der Strafkolonie zu reformieren. Außerdem verliebt er sich noch unglücklich in seine junge Nichte… 1843 erfolgt seine Abberufung und er sehnt sich danach, noch einmal auf Entdeckungsfahrt zu gehen, doch ist er nicht mehr der Jüngste und ihm fehlt zunächst die Unterstützung. Schließlich gelingt es ihm doch, das Kommando über die beiden Schiffe Erebus und Terror (unheilverkündende Namen, wie mein Vater einmal bemerkte) zu erhalten, die erneut nach der Nordwestpassage suchen sollen. Der Ausgang ist tragisch: eingeschlossen vom Eis und nachdem Sir John Franklin im Sommer 1847 stirbt – im Roman an einem Schlaganfall, auch die Möglichkeit einer Bleivergiftung durch die gerade erst erfundenen Konservenbüchsen wurde diskutiert –, versuchen die restlichen ca. 100 Teilnehmer verzweifelt, zu Fuß einen Handelsposten zu erreichen. Erst nach mehreren vergeblichen Rettungsaktionen, initiiert von Lady Jane, kann mit Sicherheit geklärt werden, dass es keinen einzigen Überlebenden gibt.
Bei aller Dramatik sind die Schilderungen selbst erstaunlich ruhig und gelassen, so wie Franklin selbst in den Augen des Autors. Es sollte angemerkt werden, dass es für seine titelgebende „Langsamkeit“ keine historischen Belege gibt, aber als literarisches Mittel eignet sie sich hervorragend – immerhin ist es ja keine Biografie, sondern ein Roman und viele Begebenheiten wie Franklins Einführung in die Liebeskunst bei einer Prostituierten in Portsmouth, die Verliebtheit in seine Nichte oder sein Tod sind reine Fiktion bzw. wissen wir nicht, ob sie so passiert sind. Vor allem wird aber in unserer gehetzten Zeit die Langsamkeit gefeiert und einer, der viel länger braucht als die anderen, für den die innere Uhr anders geht, setzt sich gegen Leute durch, die Dinge vielleicht schneller begreifen und ausführen, aber dafür weniger gründlich und nachhaltig. Er durchsteht mit seinem besonnenen Verhalten alle kritischen Situationen, geht seinen Weg und lässt sich durch traumatische Erfahrungen wie das Erwürgen eines feindlichen Soldaten in der Seeschlacht vor Kopenhagen nicht davon abbringen (auch wenn er lange daran zu knabbern hat).
„Woher weiss ich denn, dachte er, dass ich auf dieselbe Weise über dreissig bin wie die anderen? Wenn ich nachgehe wie eine Uhr, dann dauert es auch länger, bis ich abgelaufen bin. Also bin ich vielleicht erst zwanzig.“
„Es war sicher nicht leicht, Kummers zu sterben ohne Hilfsmittel, aber er würde es schaffen. Allem Zeitablauf gegenüber würde er sich jetzt willentlich verspäten und bald so nachgehen, dass sie ihn ganz für tot hielten. Der Tag der anderen würde für ihn nur eine Stunde dauern, und ihre Stunde Minuten.“
Im Polar Museum in Cambridge sah ich einige Artefakte, die bei den Suchen nach dem Verbleib Franklins und seiner Mannschaft gefunden wurden, beispielsweise eine Brille, Besteck und ein Brief/Formular, in dem von seinem und dem Tod anderer Männer berichtet wird und dem Versuch, einen Landweg zu finden. Mich rührt ihr Schicksal stets von Neuem an, weil sie auf so düstere Weise umkamen und wozu, frage ich mich am Ende immer. Die anfangs genannten Gründe vermögen mich nicht zu überzeugen, selbst wenn wir es nur solchen Wagnissen unser heutiges Wissen zu verdanken haben. Sir John Franklin wird seine Fazination für mich auch in Zukunft nicht verlieren, und Sten Nadolny hat ihm mit “Die Entdeckung der Langsamkeit” ein würdiges Denkmal gesetzt. Ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art, das man so genießen sollte, wie der Titel es sagt.