In jenem Monat lautete das Thema meiner Lesegruppe “mystery novels” und neben Sherlock Holmes und Agatha Christie stand auch dieses Buch zur Auswahl, eine Mischung aus Tatsachenbericht und Krimi über einen realen Mordfall in der Viktorianischen Epoche, der damals großes Aufsehen erregte und die Öffentlichkeit stark beschäftigte. Ich fand die Lektüre sehr spannend und informativ, anderen Lesern waren die Schilderungen zu langatmig; es interessiert sich eben nicht jeder für den Aufbau von Scotland Yard oder den Alltag einer gutsituierten englischen Familie im 19. Jahrhundert. Für mich machten jedoch gerade diese Details den Reiz von “The Suspicions of Mr Whicher” aus.

Quelle: bloomsbury.com
Besagter im Titel genannter Herr war damals Leiter der Ermittlungen von Scotland Yard im Mord an einem kleine Jungen in Wiltshire 1860. Das Außergewöhnliche an dem Fall war, dass die Tat nachts in einem abgeriegelten Haus geschah, sodass der Mörder nur ein Mitglied der Familie oder der Dienstbotenschaft sein konnte. Der kleine Saville war der erste Sohn aus der zweiten Ehe von Samuel Kent mit Mary, mit der er noch eine Tochter hatte und die zum Zeitpunkt der Tat erneut schwanger war. Pikanterweise handelte es sich bei der Frau um das ehemalige Kindermädchen, das während Samuels erster Ehe für die Familie Kent gearbeitet hatte und für die vier älteren Kinder Constance, William, Elizabeth und Mary-Ann eine Art Ersatzmutter war, als ihre richtige Mutter (die von Samuel für geisteskrank erklärt wurde) noch lebte. Das Verhältnis in der Familie ist durch diese zweite Ehe natürlich angespannt, Eifersüchteleien lassen sich nicht vermeiden, ebenso wenig das Gefühl auf seiten der älteren Kinder, die ehemalige Angestellte Mary hätte ihre Mutter verdrängt – die Beziehung zum Vater bestand mit Sicherheit schon zu Lebzeiten seiner ersten Frau. Doch auf typisch viktorianische Manier wird alles so gut wie möglich unter den Teppich gekehrt und nur durch den Mord wird die Familiengeschichte, die Abläufe im Haushalt, ja der Raumplan des Road Hill House, wo die Familie lebt, allgemein bekannt und vielfach von der Presse wiedergegeben. Die Leserschaft reagiert sensationslüstern, rätselt eifrig mit und ist empört, dass statt der lokalen Constables plötzlich Detektive aus der Hauptstadt in einer anständigen Familie herumschnüffeln und dort das Unterste zu Oberst kehren – schließlich galt die Familie zu dieser Zeit als ein unantastbares Heiligtum und es wurde größten Wert auf Privatsphäre gelegt. Gleichzeitig herrschte eine typische Verschämtheit wenn es z. B. um die Klärung der Frage ging, ob Blutflecken in Nachthemden “natürlichen Ursprungs” (sprich Menstruationsblut) waren oder vom Mord stammten. Dieser war übrigens außergewöhnlich gut geplant und brutal: der dreijährige Saville wurde nachts aus seinem Bett genommen, betäubt, hinaus in den Garten getragen und in einem Plumpsklo durch mehrere Stiche getötet, anschließend ließ man ihn an diesem Ort wie ein Stück Unrat liegen. Am nächsten Morgen bemerkte sein Kindermädchen zwar, dass er nicht im Bett lag, glaubte jedoch, er sei im elterlichen Bett bei seiner Mutter.
Soon after 6 a.m., Elizabeth Gough said, she rose, dressed, read a chapter of the Bible and said her prayers. The nightlight had burnt out, as usual, after six hours‘ use. Saville’s cot was still empty. At 6.45 – she noticed the time on the clock that sat on the nursery mantelpiece – she tried Mr and Mrs Kent’s room. ‚I knocked twice at the door, but obtained no answer.‘ She claimed that she didn’t persist because she was reluctant to wake Mrs Kent, whose pregnancy made it difficult for her to sleep. Gough returned to the nursery to dress Eveline. In the meantime Emily Doel had turned up for work.
Gough knocked again on Mr and Mrs Kent’s bedroom door. This time it was opened – Mary Kent had got out of bed and put on her dressing gown, having just checked her husband’s watch: it was 7.15. A confused conversation ensued, in which each woman seemed to assume Saville was with the other.
‚Are the children awake?‘ Gough asked her mistress, as if she took for granted that Saville was in his parents‘ bedroom.
‚What do you mean by children?‘ asked Mrs Kent. ‚There is only one child.‘ She was referring to Mary Amelia, the five-year-old, who shared her parents‘ room.
‚Master Saville!‘ said Gough. ‚Isn’t he with you?‘ ‚With me!‘ returned Mrs Kent. ‚Certainly not.‘ ‚He is not in the nursery, ma’am.‘
Die daraus resultierende Verzögerung der Suche nach dem Jungen lenkte großes Misstrauen auf die Nanny Elizabeth Gough, viele mutmaßten, dass sie etwas mit der Tat zu tun hatte und den Kleinen umbrachte, weil er sie beim Sex mit einem Liebhaber ertappte: entweder mit einem Mann aus dem Dorf, oder, ebenfalls eine beliebte These, mit dem Vater Samuel Kent (wer einmal was mit dem Kindermädchen hatte …). Detective Jonathan “Jack” Whicher versucht, die Ermittlung möglichst akribisch zu halten, so geht er einem verschwundenen Nachthemd auf die Spur und befragt Schulfreundinnen von Constance Kent, die er von Anfang an verdächtigt. Doch ein sechzehnjähriges Mädchen als kaltblütige Mörderin? Er findet kaum Glauben und ihre kurzzeitige Verhaftung bringt nicht das erhoffte Geständnis.

Quelle: http://victoriancontexts.pbworks.com
Ort des Geschehens: Das Road Hill House in Road (heute Rode, Somerset) in der Nähe von Bristol
Die Geschichte dient später als Vorbild für einen erfolgreichen „mystery novel“: „Der Monddiamant“ von Wilkie Collins, in dem ebenfalls ein Verbrechen (wenn auch nur ein Diebstahl) in einem verschlossenen Haus geschieht und in dem der an Whicher angelehnte Sergeant Cuff als einer der ersten einer langen Reihe scharfsinniger, unermüdlicher Ermittler in die Literaturgeschichte einging. Er legte quasi den Grundstein für all die beliebten Detektivgeschichten, die nach ihm kommen sollten. Charles Dickens wurde von dem Fall zu “The Mystery of Edwin Drood” inspiriert, seinem letzten, unvollendeten Buch. Auch darauf sowie auf diverse gesellschaftliche und soziologische Umstände geht Kate Summerscale in “The Suspicions of Mr Whicher” ein. Zuvorderst konzentriert sie sich aber auf die Umstände des Mordes, auf die Familie Kent, die zahlreichen Pressestimmen und den langen Weg bis zur Wahrheitsfindung. Ich möchte den Mörder an dieser Stelle nicht verraten, weil ich während des Lesens selbst ganz gespannt war und keine Ahnung hatte, wie sich die Tat abgespielt haben könnte. Nur soviel kann gesagt werden, dass Whichers Ruf nach seinen erfolglosen Bemühungen (wo kein Geständnis, da kein Täter) im Road Hill House-Fall vor allem in den Augen der Öffentlichkeit ziemlich beschädigt war und er sich bald aus dem aktiven Polizeidienst zurückzog. Vorher hatte er eine beachtliche Karriere vom einfachen Polizisten zum geachtetesten Detektiven Scotland Yards hingelegt; er gehörte zu den Gründungsmitgliedern dieser Abteilung und sein unauffälliges Aussehen und schnelle Reaktionsfähigkeit machten ihn zu einem erfolgreichen “Schnüffler”, einem Beruf, der in England viel Ablehnung erfuhr, weil nichts mehr privat zu bleiben schien, wie es ja in der Kent-Familie deutlich wurde.
Ich kann das Buch jedem Krimifreund nur ans Herz legen. Ein wenig Geschichtsinteresse schadet dabei nichts, um wie ich Freude an Informationen haben, wie die Arbeit eines Polizisten um 1850 herum aussah oder welche Kaufkraft bzw. Umrechnungswert damaliges Geld hatte. Auch die tückischen Auswirkungen von Syphilis, ohne die die ganze Geschichte vielleicht nie passiert wäre, fand ich überaus faszinierend, wie überhaupt das letzte Drittel des Buchs, in dem die Ereignisse nach der Aufklärung des Mords (sowie ein möglicher alternativer Tathergang) beleuchtet werden. Ich las das Buch unter anderem am Flughafen, als ich mehrere Stunden Wartezeit herumbringen musste und es erwies sich als geradezu ideal dafür, ich war wirklich begeistert und froh, durch den Bookclub darauf aufmerksam geworden zu sein.