Ein Monat - ein Buch

November 2012: Henri Alain-Fournier – Der große Meaulnes

Le Grand Meaulnes“, im Deutschen auch unter dem Titel „Der große Kamerad“ erschienen, ist hierzulande nur wenig bekannt, wurde aber von der französischen Zeitung Le Monde auf Platz 9 der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts gewählt (naturgemäß fanden sich viele französische Werke auf der Liste) und erfreut sich auch 100 Jahre nach Erscheinen großer Beliebtheit bei unseren Nachbarn. Als ich zum ersten Mal darüber las, war ich erstaunt, noch nie etwas vom Autor („Der große Meaulnes“ blieb sein einziges Werk, weil er bereits 1914 tragischerweise südlich von Verdun fiel) oder dem Buch gehört zu haben. Wie bereits bei einigen anderen Titeln erwähnt, wurde ich auch dieses Buchs erst in München habhaft. Es ist nicht besonders dick und eignete sich perfekt als U-Bahn-Lektüre. Während der Recherche zu diesem Post habe ich auch endlich gelernt, wie man den Namen der Titelfigur ausspricht: „Mohln“.

Quelle: geistesleben.de 

Da ich das Cover meines gelesenen Buches nicht auftreiben konnte, habe ich das gewählt, das mir am besten gefiel

Die andauernde Popularität der Geschichte liegt vielleicht in seinem universalen Thema: die Nostalgie, mit der man sich an die Kindheit/Jugend und den Zauber der ersten Liebe erinnert. In Rückblenden erzählt François Seurel, wie in den 1890er Jahren Augustin Meaulnes in sein Dorf Sainte-Agathe kommt, bei seiner Familie (François‘ Vater ist Dorfschullehrer) wohnt und alle mit seiner unbekümmerten, etwas rabaukenhaften Art beeindruckt, aber auch für Unruhe sorgt.

Er kam an einem Sonntag im November 189… in unser Haus (…). Ein großer Junge von ungefähr siebzehn Jahren. Zuerst sah ich in der Abenddämmerung von ihm nur seinen in den Nacken geschobenen, bäurischen Filzhut und seinen schwarzen Kittel, zusammengehalten von einem Gürtel, wie ihn Schüler tragen.

An einem Weihnachtstag nimmt er sich Pferd und Wagen, verschwindet plötzlich und taucht erst nach mehreren Tagen wieder auf. Was er erlebt hat, klingt abenteuerlich und märchenhaft: Er hatte sich verfahren, war eingeschlafen, verlor sein Gefährt und kam schließlich zu Fuß zu einem kleinen Schloss, wo offenbar gerade eine Hochzeit gefeiert wurde. Meaulnes fällt zwischen den vielen Gästen nicht auf und bleibt einen Tag dort, bis am nächsten Abend die ausgelassene Feier abrupt durch die Nachricht, dass die Braut weggelaufen sei, beendet wird und er in dem anschließenden Chaos von Leuten zu seinem Heimatdorf mitgenommen wird. Wieder schläft er ein und weiß so nicht den Ort des Schlosses oder den Weg dorthin. Alles kommt ihm wie ein Traum vor, bis auf die Erinnerung an ein junges Mädchen, in das er sich bei einer Bootsfahrt verliebt hat, und an den versuchten Selbstmord des Bräutigams aus Verzweiflung, weil ihn seine Angetraute verlassen hat.

 

In den darauffolgenden Wochen versucht Augustin, seine Fahrt zu rekonstruieren, um zu erfahren, wo und bei wem er gewesen ist, dieses „verlorene Land“ wird geradezu eine Obsession für ihn. Zufällig kommt eine Schaustellertruppe in den Ort und zu ihnen gehört ein gewisser Frantz, eben der verlassene Bräutigam vom Schloss – er hat sein altes Leben aufgegeben und zieht in seinem Kummer durch die Welt. Er erkennt Meaulnes und verrät ihm, dass das von ihm angebetete Mädchen (Frantz‘ Schwester Yvonne) in Paris lebt, was dem jungen Mann ausreicht, um die Schule zu verlassen und in die Hauptstadt zu ziehen. Wie er in Briefen an François schreibt, verbringt er Tage und Wochen vor dem Haus, wo Yvonne wohnen soll, in der Hoffnung, sie wiederzusehen.

Sicher wollte ich Mademoiselle de Galais einmal wiedersehen, nur sie wiedersehen …  Aber jetzt bin ich davon überzeugt, daß ich, als ich das namenlose Gut entdeckte, auf einer Höhe, auf einer Stufe der Vollkommenheit und Reinheit war, die ich nie wieder erreichen werde. Im Tod erst, wie ich dir einmal schrieb, werde ich vielleicht die Schönheit jener Zeit wiederfinden.

In dieser Zeit lernt er noch ein anderes Mädchen kennen, Valentine, die, wie das Schicksal es so will, die entflohene Verlobte von Frantz ist. Sie hat ihren überstürzten Schritt seitdem oft bereut und sehnt sich nach Frantz, von dem sie nicht weiß, wo er jetzt ist.

 

Einige Monate nach diesen Ereignissen erfährt François durch Zufall, wo sich Meaulnes‘ geheimnisvolles Schloss (die Besitzerfamilie ist inzwischen verarmt und muss es aufgeben) befindet und lernt auch Yvonne kennen. Er sorgt für eine erneute Begegnung zwischen seinem „großen Kameraden“ und Yvonne, die zu ihrer Verlobung und Hochzeit führt – ein scheinbares Happy End. Doch Meaulnes hat ein Geheimnis, das ihn nicht ruhen lässt und außerdem hat er Frantz geschworen, ihm bei der Suche nach Valentine zu helfen. So verlässt er nach wenigen Monaten seine Frau wieder, und sie und François hören nichts mehr von ihm…

Aber wie könnte ein Mensch, der einmal einen Sprung ins Paradies gewagt hat, danach wieder so leben wie alle anderen?

Neben der genannten Nostalgie und der ewigen Suche nach dem „verlorenen“ Ort (der für die Kindheit stehen könnte) ist ein bestimmendes Thema das Reisen, denn die Unruhe und das Umherwandern macht sich nicht nur in Meaulnes‘ dauerndem Verschwinden und Wiederauftauchen bemerkbar, auch in Frantz‘ Zeit als Clown; ihre Leben ähneln einer Odyssee und sie jagen ihren verschwundenen Mädchen wie Traumfiguren nach. Wenn sie sie dann, wie in Meaulnes‘ Fall, glücklich gefunden haben, ist dieses Glück nicht von Dauer, der Traum hält der Wirklichkeit angesichts eingegangener Verpflichtungen und begangener Fehler nicht stand. Das Buch ist ein Hohelied auf die Freundschaft und diese stetige Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem, die man im Herzen trägt und die nicht gestillt werden kann, uns aber ein Leben lang, oder zumindest während der Jugend antreibt und die man nicht verlieren möchte. Oder, wie Alain-Fournier einmal schrieb: „Ich werde niemals diese Starre kennen, diese Beruhigung, diesen Schlummer im Hause des Glücks.“

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