Traurig aber wahr: Kein Deutscher, den ich mit den Namen „Shelley und Keats“ konfrontierte, konnte etwas damit anfangen. Es handelt sich ja nur um zwei der größten Dichter der englischen Sprache, zusammen mit Lord Byron bilden Percy Bysshe Shelley und John Keats quasi das Triumvirat der zweiten Generation der britischen Romantiker (wenn man William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und William Blake als „erste Generation“ betrachtet, die Ende des 18. Jahrhunderts tätig war – damit hätten wir die „Big Six“ genannt). Manche hatten evt. eine unbestimmte Assoziation mit „Frankenstein“, und dann sage ich immer: „Ja, aber das hat Mary Shelley geschrieben, seine Frau“ – wirklich seltsam, dass die Dame mit einem Erfolgsroman bis in die Gegenwart berühmt geblieben ist, während ihr Gatte außerhalb der Insel nur Ratlosigkeit hervorruft. Jahrelang wollte ich ein T-Shirt mit der Aufschrift bedrucken lassen: „Shelley und Keats – Wer sie nicht kennt, hat was verpasst“. Bei meinem Besuch in Rom letztes Jahr ergatterte ich dann so etwas ähnliches: ein T-Shirt mit den Namen „John & Mary & Percy & George“ (da wurde mir wieder in Erinnerung gerufen, dass „Lord“ natürlich nicht Byrons Vorname ist; er heißt tatsächlich George). Das versteht zwar auch keiner, aber ich trage es mit intellektuellem Stolz und um Fragen zu provozieren.

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Das Cover verwendet das von Amelia Curran 1819 gemalte Porträt, das man auch in der Londoner National Portrait Gallery bewundern kann
Was mich zuerst an Percy Bysshe Shelley faszinierte, waren a) der Name – „Bysshe“ ist einfach phänomenal, kein anderer heißt so und es reimt sich offenbar auf „Fisch“ –; b) das zweifellos sehr attraktive Porträt in der National Portrait Gallery – der Dichter als Posterboy, sozusagen –; und c) sein wildes Leben, das mir immer als das eines romantischen Rebellen schlechthin erschien. Darüber wollte ich schon lange mehr erfahren und die Biografie von Richard Holmes, ein Standardwerk nicht nur über Shelleys Leben, sondern des Biografie-Genres generell, bot in dieser Hinsicht das Nonplusultra: 635 eng beschriebene Seiten, die trotzdem nie langweilig wurden und mir sechs Wochen lang eine wunderbare Lektüre waren. Jede Station seines Lebenswegs wurde detail- und anekdotenreich unter die Lupe genommen, wobei die primäre Quelle Briefe (soweit vorhanden) sowie zwei frühe Biografien aus dem 19. Jahrhundert von Freunden Shelleys darstellten: von der Kindheit auf dem väterlichen Anwesen in Sussex – sein Vater war Baronet und Parlamentsmitglied –, seiner schwierigen Schulzeit in Eton und noch problematischeren Studienzeit in Oxford, wo er wegen eines atheistischen Pamphlets rausflog; über seine ersten literarischen Versuche mit dem damals so populären Genre der „gothic novels“; sein Durchbrennen mit Harriet Westbrooke und ihre gemeinsame Zeit in Schottland, Wales und London; und schließlich die eine fatale Begegnung mit der damals erst 16-jährigen Mary Godwin, in die sich Shelley Hals über Kopf verliebte und mit der er wieder eine Flucht unternahm, mit Marys Schwester Jane Clairmont im Schlepptau und ungeachtet des gemeinsamen Kinds mit Harriet, die noch dazu erneut schwanger war. Da wurde es dann richtig interessant. Mit den Mädchen zog er über Frankreich in die Schweiz und den Rhein hinauf zurück nach England, während die Godwin-Familie Kopf stand und Harriet keine Ahnung hatte, wo ihr treuloser Mann abgeblieben war. Zumindest für sie hatte die ganze Geschichte einen tragischen Ausgang: Sie nahm sich zwei Jahre später im See des Hyde Parks das Leben, verlassen und ohne finanzielle Unterstützung durch Shelley. Der Dichter war ein Hans Dampf in allen Gassen, es hielt ihn kaum an einem Ort, mal musste er vor Gläubigern fliehen (Shelley setzte sich intensiv für das Wohlergehen der Arbeiterschicht ein, dachte aber wie ein echter Adliger nicht daran, fällige Rechnungen zu bezahlen), mal vor der Zensur und irgendwie auch immer vor sich selbst. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Italien: Dort schrieb er seine besten Werke, pflegte eine zwiespältige Freundschaft mit Lord Byron (die beiden Dichtergenies wurden durch Jane Clairmont bekannt gemacht, die sich später Claire nannte und ein Kind von Byron hatte – die wechselseitigen Verbindungen der englischen Kulturbohemiens waren mannigfaltig) und fand so etwas wie eine Heimat in Florenz und Pisa, bevor er im Alter von nur 30 Jahren bei einer Segeltour im Golf von Spezia ertrank – ja ja, wen die Götter lieben… Mit ihm ging Edward Williams unter, dessen Frau Jane die letzte Liebesaffäre von Shelley war.

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Shelley in den Ruinen der Caracalla-Thermen, wo er Inspiration für „Prometheus Unbound“ fand
Für mich ist er quasi ein Proto-Hippie: Ihm schwebte immer das Zusammenleben in einer Art Kommune vor, in der Männer und Frauen gleichberechtigt liberale Gedanken und freie Liebe austauschen konnten – er war ein großer Gegner der Ehe, was ihn freilich nicht davon abhielt, sich zwei Mal zu verheiraten – und probierte es auch mehrfach aus, nur kam es zwangsläufig zu Eifersüchteleien und Stutenbissigkeit zwischen den Damen. Immer wieder gab es „Menages à trois“, ob nun tatsächlich im erotischen oder rein freundschaftlichen Sinne, lässt sich nicht immer zweifelsfrei klären, aber Holmes recherchierte, dass es ein uneheliches Kind von Shelley gab, das zur Adoption freigegeben wurde und dessen Mutter wahrscheinlich das Kindermädchen der Familie war, während zur selben Zeit seine Schwägerin Claire mutmaßlich von ihm schwanger war und später eine Fehlgeburt erlitt. Wenn man den Dichter mit dem Engelsgesicht, das einem vom Buchcover anschaut (und mutmaßlich idealisiert ist) je verklärt hat, bekommt man hier eine weitaus realistische und vielschichtige Sicht auf ihn – auch optisch: Sein wirres Haar, die stechenden blauen Augen und die angeblich schrille Stimme ließen ihn wie einen Kobold oder ein Kind erscheinen, gleichzeitig hatte er schon früh graue Strähnen. Er war zeitweise Vegetarier und neigte zu Nervenschmerzen und sogar epileptischen Anfällen. Seine radikale Philosophie und liberale Lebensweise spaltete seine Zeitgenossen, aber inspirierte spätere Generationen und Personen wie Marx, Tagore und George Bernard Shaw.
Schließlich und endlich analysiert Holmes einige der wichtigsten Werke Shelleys, die ja am Ende das bleibende von ihm sind (und nicht die Skandale). Zu seinen besten Momenten zählt er „Julian and Maddalo“, in denen Gespräche zwischen Shelley und Byron verarbeitet wurden; die ersten zwei Teile von „Prometheus Unbound“; „The Masque of Anarchy“, in dem der Dichter nach dem brutalen Niederschlagen einer Arbeiterdemo zu gewaltlosem Widerstand aufruft und mit der prägnanten Zeile schließt: „Ye are many – they are few!“; sowie das unvollendet gebliebene „Triumph of Life“. Daneben dürfen auch das erste große (endlose und sehr philosophische) Werk „Queen Mab“, das mysthische „Alastor“ oder das aufrührerische, mit inzestuösen Einsprengseln durchsetzte „The Revolt of Islam“ nicht fehlen, jeweils mit Textpassagen, sodass man einen guten Überblick über Shelleys Schaffen erhält, selbst wenn man seine Gedichte vielleicht nicht (vollständig und im Original) lesen mag. Ich mochte immer das grandiose „Ode to the West Wind“, der auch für den unruhigen Geist Shelley selbst stehen könnte, und „Love’s Philosophy“:
The fountains mingle with the river
And the rivers with the ocean,
The winds of heaven mix for ever
With a sweet emotion;
Nothing in the world is single;
All things by a law divine
In one spirit meet and mingle.
Why not I with thine?—
See the mountains kiss high heaven
And the waves clasp one another;
No sister-flower would be forgiven
If it disdained its brother;
And the sunlight clasps the earth
And the moonbeams kiss the sea:
What is all this sweet work worth
If thou kiss not me?
Bei dem erwähnten Romurlaub erwies ich Shelley und Keats, die beide auf dem Cimitero acattolico ihre letzte Ruhe gefunden haben, selbstverständlich die Ehre. Angeblich hat sich Oscar Wilde seinerzeit vor Keats‘ Grab flach auf den Boden geworfen. Ein anderer Besucher, der mit mir dort war, legte eine Rose auf Shelleys Grabstein, ich begnügte mich damit, mit der Hand einen Kuss darauf zu drücken.