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Rainer Maria Rilke – Gedichte

Zu den bekanntesten und beliebtesten Gedichten der Deutschen gehört zweifellos Rilkes „Herbsttag“: Es gibt wohl kaum jemanden, der die Anfangszeile „Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß“ nicht kennt oder von der letzten Strophe („Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr…“) keine melancholischen Anwandlungen bekommt. Ich glaube, dass diese Melancholie in der Natur von uns Deutschen verankert ist, weil unsere Dichter so viele traurigschönen Gedichte über Herbst, Abschied und Tod schrieben, da kommt der „Weltschmerz“ durch, ein Wort, das von Jean Paul geprägt wurde und in viele andere Sprachen einging.

Quelle: amazon.de

Auf Rilke wurde ich in der Schule aufmerksam, wir bekamen immer mal wieder Gedichte von ihm zum Interpretieren, so z. B. das weniger bekannte „Jetzt reifen schon die roten Berberitzen“, in dem sich Anklänge an „Herbsttag“ finden:

Jetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten und sich nie besitzen.

Wer jetzt nicht seine Augen schließen kann,
gewiss, dass eine Fülle von Gesichten
in ihm nur wartet bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten: –
der ist vergangen wie ein alter Mann.

Dem kommt nichts mehr, dem stößt kein Tag mehr zu,
und alles lügt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn täglich in die Tiefe zieht.

Oder, mit gleicher Thematik (Abschied, Vergehen, aber auch Hoffen auf ein Danach):

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Ich glaube, im Alter von 17, 18 war ich für solche Stimmungen besonders empfänglich, obwohl ich die Zeilen auch heute noch anrührend finde, sie haben eine Zartheit und eine wohl gewählte, leicht surreale Sprache. Davon wollte ich mehr und so lieh ich mir im November 2006 – perfekte Zeit für melancholische Gedichte – einen kleinen Sammelband mit seinen Werken aus. Ausgerechnet an diesem Tag sollten sich meine jahrelangen regelmäßigen Bibliotheksbesuche auszahlen, als zufällig ein Fotograf der Regionalzeitung anwesend war, der mich prompt bat, mit den entliehenen Medien zu posieren. So fächerte ich alles in einer Hand auf (glücklicherweise handelte es sich um dünne Artikel): den Rilke, ein amüsantes Sachbuch mit dem Titel „Warum der Toast immer auf die Butterseite fällt“, Norah Jones‘ Album „Come Away With Me“ und die DVD „Stolz und Vorteil“ – zufällig präsentierte ich damit einen Querschnitt der ausleihbaren Medien, was sich gut als Werbung für die Bücherei machte. Am nächsten Tag war mein Foto dann in der Zeitung, wie ich morgens im Klassenzimmer erfuhr. Es war ganz nett geworden, und mein Traum, einmal in die Zeitung zu kommen (wer möchte das nicht als Teenie), hatte sich erfüllt; ein weiterer Beweis für mich, dass der November ein Glücksmonat ist (siehe „Wagnis des Herzens“).

Quelle: radikal.com.tr 
Sein Blick hat etwas stechendes an sich

Das schon etwas vergilbte Bändchen aus der Reclam Universalbibliothek erwies sich als Schatztruhe und ich schrieb mir etliche Gedichte daraus ab. Dabei gefielen mir besonders seine frühen Gedichte, während ich die „Duineser Elegien“ oder die „Sonette an Orpheus“, die zumindest in Auszügen enthalten waren, nur überflog; für längere lyrische Werke habe ich selten Geduld gehabt, ich mag eher die kurzen, einprägsamen, weil sie mich am meisten berühren. Ich erfreute mich an den teilweise absurden sprachlichen Bildern und der seltsam befremdlichen Welt seiner Gedichte:

Nachtwächter ist der Wahnsinn,
weil er wacht.
Bei jeder Stunde bleibt er lachend stehn,
und einen Namen sucht er für die Nacht
und nennt sie: sieben, achtundzwanzig, zehn…

Und ein Triangel tragt er in der Hand,
und weil er zittert, schlägt es an den Rand
des Horns, das er nicht blasen kann, und singt
das Lied, das er zu allen Häusern bringt.

Die Kinder haben eine gute Nacht
und hören träumend, dass der Wahnsinn wacht.
Die Hunde aber reißen sich vom Ring
und gehen in den Häusern groß umher
und zittern, wenn er schon vorüberging,
und fürchten sich vor seiner Wiederkehr.

Ich ließ mich davon inspirieren, versuchte mich sogar als Dichter im Rilke-Stil, und das Ergebnis fand ich damals sehr gelungen. Vor allem verlieh er meinen Gefühlen der Angst, Sehnsucht und Verwirrung Ausdruck, in jener Zeit schien mir alles sehr poetisch und dramatisch und Rilke passte da perfekt. Ich glaube, nicht wenige machen ähnliches durch auf dem Weg zum Erwachsensein, und dann sucht man nach etwas, das dieses Chaos beschreibt. Ich sträubte mich sehr, meine Kindheit hinter mir zu lassen (ganz habe ich mich damit noch immer nicht abgefunden, aber es hilft ja nichts) und das wird in „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ sehr gut beschrieben – ja, ihr bringt mir alle die Dinge um!

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Bis heute ist Rilke sicher einer der populärsten deutschen Dichter, wozu nicht nur „Herbsttag“, sondern auch „Der Panther“ beigetragen haben, und in jüngerer Zeit verkauften sich die Alben des „Rilke Projekt“, bei dem prominente Musiker und Schauspieler seine Lyrik interpretieren, überraschend gut. Er scheint wirklich eine Note in uns anzuschlagen, die uns besonders berührt, selbst bei Leuten, die „sonst keine Gedichte mögen“. Und dabei kennen wohl die wenigsten die recht faszinierende Biografie des als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke geborenen in Prag geborenen Dichters, der als Kind wie ein Mädchen (einschließlich langer Haare und Kleidchen) erzogen wurde, dann ein Trauma in der Militärschule erlebte und schließlich durch die Begegnung mit der enigmatischen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé zu „Rainer“ wurde und den Mut fand, seinem Talent freien Lauf zu lassen. Mit seiner verheirateten Geliebten samt Gatten reiste er durch Russland, wo er Tolstoi und Pasternak kennenlernte, bevor er in den berühmten Künstlerkreis in Worpswede eintrat und die Malerin Clara Westhoff heiratete. Nur um bald darauf nach Paris zu ziehen und der Sekretär von Auguste Rodin zu werden, dessen Monographie er verfasste… Sein Werk ist nicht riesig angesichts der Tatsache, dass er fast zehn Jahr kaum lyrisch tätig war und bereits mit 51 in der Schweiz an Leukämie starb. Aber er hat uns jedenfalls etliche Zeilen hinterlassen, die wir nicht nur lesen, sondern geradezu fühlen können, die wir vor uns hin murmeln, wenn wir „in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben“, oder wahlweise auch über verschneite Wege in der Vorweihnachtszeit – Rilke passt zu jeder Zeit und das liebe ich so an ihm.

Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt
und manche Tanne ahnt wie balde
sie fromm und lichterheilig wird.
Und lauscht hinaus: den weißen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.

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