Ein Monat - ein Buch

Oktober 2008: John Irving – Die vierte Hand

Wenn man mich nach der komisch-absurdesten Szene fragen würde, die mir im Laufe der Jahre in einem Roman untergekommen ist, würde mir sicher als erstes diese aus John Irvings „Vierte Hand“ einfallen: Wie ein renommierter Chirurg in Boston mit seinem Hund joggen geht und dabei mit einem Lacrosse-Schläger (ohne britische Kulturgeschichte während des Studiums hätte ich keinen Schimmer gehabt, was das überhaupt sein soll) Hundehaufen aus dem Weg und in den Fluss befördert, weil sie sonst von seinem tierischen Freund aufgefressen werden – der Hund isst einfach gerne Kot. Ich weiß nicht, wie realistisch so etwas ist, vielleicht kannte Irving ein ähnliches Tier, aber das dann auf diese Weise in eine Geschichte einzubauen, gelingt nur wenigen. Wobei der Autor ohnehin dafür bekannt ist, die merkwürdigsten Plots zu basteln und sie mit markanten Charakteren zu füllen, die alle Höhen und Tiefen des Lebens durchmachen. Doch selbst in tragischen Momenten gibt es immer eine große Prise schwarzen Humor und deshalb las ich seine Bücher eine Zeitlang gern, bis ich nach „Das Hotel New Hampshire“ einfach aufhörte. Zum einen haben sie in der Regel den Umfang eines Dickens- oder King-Werkes, man muss sich also Zeit nehmen, die ich lieber in beispielsweise die zwei genannten Herren investiere, zum anderen beschlich mich das Gefühl, dass Irving immer mit den gleichen Versatzstücken hantiert, die er wie ein Barmixer in seinen Becher wirft und kräftigt schüttelt – was auf die Dauer ermüdend wirkt. Aber irgendwann, wenn mich mal eine Laune überkommt oder partout gerade nichts anderes an attraktivem Lesestoff in der Bibliothek vorhanden ist, werde ich, vielleicht…

Quelle: lovelybooks.de

Nach einigem Herumgesuche konnte der Zeichner der Titelillustration ermittelt werden: Edward Gorey, der die deutschen Ausgaben des Irvingschen Werks unverwechselbar macht

„Die vierte Hand“, das übrigens mit rund 400 Seiten ungewöhnlich knapp gehalten ist, habe ich jedenfalls geliebt. Es handelt von dem Fernsehreporter Patrick Willingford, dem vor laufender Kamera ein Löwe in einem indischen Zirkus die Hand abbeißt. Dies sorgt nicht nur für schockierte Zuschauer und reichlich mediale Aufregung, er wird dadurch schlagartig berühmt, wenn auch auf makabre Weise. Nach einigen Jahren wird er überraschend vom Chirurgen Dr. Zajac kontaktiert mit dem Angebot, Patrick eine neue Hand anzunähen; vorausgesetzt, es findet sich ein Spender. Tatsächlich meldet sich eine Dame aus Wisconsin namens Doris Clausen, deren Mann Otto dafür in Frage kommt – selbstverständlich erst nach seinem Tod.

Bei dem Gedanken an die Angriffszüge von Denver fühlte sich Otto kotzelend, oder aber seine Frau hatte ihn angesteckt. So mies hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er gesehen hatte, wie ein Löwe diesem Schönling von einem Journalisten die Hand weggefressen hatte. Wie hieß das Arschgesicht bloß?

Mrs. Clausen wußte den Namen des unglücklichen Reporters.

Wie es wohl dem armen Patrick Wallingford so geht?” sagte sie zuweilen aus heiterem Himmel, worauf Otto den Kopf schüttelte und sich kotzelend fühlte. Nach kurzem, andächtigem Schweigen fügte seine Frau dann hinzu: “Ich wurde dem armen Mann meine eigene Hand geben, wenn ich wüsste, dass ich bald sterbe. Du nicht auch, Otto?”

Ich weiß nicht – ich kenne ihn ja nicht mal”, hatte Otto erwidert. “Es ist nicht so, als gäbe man einem Fremden eines seiner Organe. Das sind bloß Organe. Wer kriegt die je zu Gesicht? Aber die Hand . . . das ist nun mal ein erkennbarer Teil von einem selber, wenn du verstehst, was ichmeine.”

Wenn du tot bist, bist du tot”, hatte Mrs. Clausen gesagt.

Und dieser Zustand trifft nach einem verlorenen Super Bowl-Finale und einem versehentlichen Revolverschuss schneller ein als gedacht. Doris hat da allerdings ihre kleinen Bedingungen: Sie möchte die Hand ihres verstorbenen Gatten von Zeit zu Zeit „besuchen“, und sie möchte von Patrick schwanger werden, weil sie ein Kind will und der gute Otto, so lieb sie sich auch hatten, leider zeugungsunfähig war. Das Geschäft wird vollzogen, und nun sollten eigentlich alle glücklich sein: Doris ist schwanger, und Patrick hat eine neue Hand und ist obendrein in die Witwe verliebt. Allerdings hegt diese nur Sympathien für Ottos Hand und nach der Geburt des Sohns (Otto Jr.) darf er sie kaum noch sehen. Als Patricks Körper das transplantierte Gliedmaß abstößt, muss er sich entscheiden, ob er sich mit dem Phantomschmerz abfindet oder den Mut zur „vierten Hand“ hat…

Das alles mag ein wenig abstrus klingen und überdies flicht Irving viele Nebencharaktere ein, die nicht wirklich zum Handlungsverlauf beitragen, aber die sich wohl in seiner Ideenkartei befanden und die er unbedingt irgendwie unterkriegen wollte. Dazu zählt beispielsweise der ZDF-Moderator Peter Frey – ich war völlig verwirrt, wieso eine reale Person hier auftaucht oder woher der Autor ihn kannte, aber Tatsache ist, dass Patrick ihn und seine Frau während eines Flugs kennenlernt. Die einzelnen Episoden sind im Allgemeinen lustiger und ergeben an sich mehr Sinn als das große Ganze, das etwas verplätschert und kein richtig befriedendes Ende hat. Immerhin wandelt sich der notorische Fremdgänger Willingford in einen Mann, der mit Doris und dem kleinen Otto eine richtige Familie gründen möchte, von der Oberflächlichkeit bzw. Sensationsgeilheit seiner Branche schließlich die Nase voll hat und bei seinem letzten Auftritt vor der Kamera den Zuschauern mehr Respekt vor Hinterbliebenen und Opfern von Unfällen oder Katastrophen ans Herz legt. Denn er hat am eigenen Leib erfahren, wie unangenehm und unerwünscht das Medieninteresse nach solchen Schicksalsschlägen werden kann. Abgesehen von dieser Läuterung gibt es keine tiefgehenden Botschaften im Roman, Irving bietet einfach beste Unterhaltung und dass relativ viel Sex vorkommt, muss man bei ihm nicht extra erwähnen. Ich hatte großen Spaß bei der Lektüre, bewunderte die skurrilen Ploteinfälle zutiefst und wenn es einen Grund gibt, sich wieder mal einem seiner Bücher zu widmen, dann ist es die Hoffnung, es möge mindestens so gut sein wie „Die vierte Hand“.

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