Ein Buch - mehrere Monate/Ein Monat - ein Buch

Oktober 2004: Lew Tolstoi – Anna Karenina

Seit ich meine Liebe zu dicken Romanklassikern entdeckt habe, weiß ich, dass ich bei den berühmtesten russischen Autoren an der richtigen Adresse bin: Ob nun Tolstoi oder Dostojewski, sie sind beide nicht dafür bekannt, wenig Worte um etwas zu machen, wenn man es auch in vielen ausdrücken kann – obwohl sie auch ausgezeichnete Kurzgeschichten verfassten. Im Laufe der Jahre habe ich manches ihrer Werke durchgeackert und „Anna Karenina“ war das erste. Allgemein durch zahlreiche Verfilmungen bekannt (mir fallen spontan min. drei ein: jeweils mit Greta Garbo, Sophie Marceau und Keira Knightley in der Rolle der Titelheldin) war es eine logische Wahl, als ich mich allmählich aufmachte, die Weltliteratur zu erkunden. Ich las das Werk in zwei Bänden im Oktober und November 2004, natürlich in einer bibliotheksvergilbten DDR-Ausgabe ohne hübsches Umschlagsbild und dergleichen.

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Quelle: zvab.com

Der Roman beginnt mit einem Satz, der von manchen als bester Anfangssatz überhaupt bezeichnet wird und sogar einem Prinzip den Namen gab:

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.

In diesem Fall sind es Stepan Oblonskij (genannt Stiwa) und seine Frau Dolly, deren Ehe wegen seiner außerehelichen Aktivitäten in einer Krise steckt. Stiwas Schwester Anna Karenina kommt eigens nach Moskau, um zu helfen, die drohende Scheidung noch abzuwenden. Bei ihrer Ankunft auf dem Bahnsteig findet inmitten des Chaos um einen verunglückten Schienenarbeiter die schicksalshafte erste Begegnung mit Graf Alexej Wronskij statt. Dieser ist ein charmanter, gut aussehender Lebemann, der mit diversen Frauen flirtet, nicht zuletzt mit Dollys Schwester Kitty Schtscherbazkaja (dieser Name dürfte für Leser, die keiner slawischen Sprache mit den typischen Zischlauten mächtig sind, ziemlich unaussprechlich sein). Doch Anna hinterlässt bei dem Grafen einen ungewöhnlich tiefen Eindruck und er tanzt auf einem Ball nur mit ihr, statt Kitty den erwarteten Antrag zu machen. Anna ist von ihren Reaktionen auf Wronskijs Werben überrollt, sie kann sich dem kaum entziehen und so beschließt sie – nachdem ihre Mission der Versöhnung zwischen Dolly und Stiwa geglückt ist –, so schnell wie möglich nach St. Petersburg zu ihrem Mann und ihrem geliebten kleinen Sohn zurückzukehren. Im Nachtzug trifft sie erneut auf Wronskij, der ihr prompt eine Liebeserklärung macht. Sie weist ihn zunächst zurück, doch sucht später in St. Petersburg zusehends seine Nähe. Ihre Ehe ist längst nicht so unglücklich wie die ihres Bruders, nur handelt es sich bei ihrem Mann Karenin um einen staubtrockenen, älteren Bürokraten; ein eigentlich guter Mann, der leider wenig Emotionen zeigt. So verwundert es nicht, dass Anna irgendwann eine Affäre mit Wronskij beginnt, er ist der erste Mann, den sie leidenschaftlich liebt und dafür alle Konsequenzen in Kauf nimmt: selbst den Verlust ihres Sohns Serjoscha, den sie im Falle einer Scheidung nicht mehr sehen darf. Nach der schweren Entbindung von Wronskijs Kind (eine Tochter, Annie) und schweren inneren Kämpfen sowie einem Scheidungsangebot ihres Mannes flieht Anna mit ihrem Geliebten nach Italien – und verspielt damit ihren Ruf, ihr Ansehen und ihre Chance auf eine gütliche Trennung von Karenin. Dass ihr kurzes Glück unter diesen Umständen zum Scheitern verurteilt ist, erkennt sie wohl und sieht trotzdem keine Alternative. So nimmt die Handlung ihren unheilkündenden Abwährtsverlauf bis zum wohlbekannten Ende, bei dem wieder ein Zug die Hauptrolle spielt …

Auf einmal kam ihr der Mann ins Gedächtnis, der an dem Tag ihrer ersten Begegnung mit Wronski überfahren worden war, und nun wußte sie, was sie zu tun hatte. Mit schnellen, leichten Schritten stieg sie die Stufen hinab, die von der Wasserstelle zu den Schienen führten, und blieb neben dem dicht an ihr vorüberfahrenden Zuge stehen. Sie blickte nach dem unteren Teile der Wagen, nach den Schrauben, den Ketten und den hohen, gußeisernen Rädern des langsam dahinrollenden ersten Wagens und suchte nach dem Augenmaß die Sekunde abzupassen, wo der Zwischenraum zwischen den Vorder- und den Hinterrädern gerade vor ihr sein werde.

›Dorthin!‹ sagte sie zu sich selbst, indem sie in den Schatten blickte, den der Wagen warf, und ihre Augen auf den mit Kohlen vermischten Sand richtete, mit dem die Schwellen bedeckt waren. ›Dorthin, gerade in den Zwischenraum; so werde ich ihn bestrafen und mich von allen und von mir selbst befreien.‹

Um die Dramatik etwas abzumildern, stellt Tolstoi dem unglücklichen Liebespaar ein (nach einigen Wirrungen) glückliches gegenüber: Kitty Schtscherbazkaja und Konstantin Lewin. Diesen Erzählstrang fand ich damals etwas störend, aber mittlerweile erkenne ich, welch geschickter Zug dieser Kontrast ist. Lewin hat ein Gut und führt ein recht einfaches, seinen Bauern nahestehendes Leben, wie es in einem wunderbaren Kapitel über die Heumahd beschrieben wird (Aufstehen im Morgengrauen, dann stehen alle Seit an Seit und sensen so die Wiese ab, bis das Tagewerk geschafft ist). Der Autor bringt hier seine eigenen Ideen zur Entwicklung und Stärkung der russischen Landbevölkerung nach der Bauernbefreiung 1861 zum Ausdruck, die anders verlaufen müsste als in Westeuropa, weil sich die Situation und Mentalität der Muschiki fundamental unterscheidet. Aber Lewin schmiedet nicht nur in diese Richtung Pläne, auch sein privates Glück möchte er verwirklichen und seine Wahl ist schon längst auf die Schwester seines Freundes Stepan Oblonskij gefallen. Doch Kitty hat zunächst nur Augen für Wronskij und wird vor Trauer um seine Abwendung ganz krank. Erst nach längerer Zeit und einem zweiten Versuch nimmt sie Lewins Antrag an, doch ihn plagen auch nach der Heirat existenzielle Zweifel und erst in einem augenöffnenden Moment und einer Abkehr von seinem bisherigen Atheismus findet er neuen Lebensmut und einen Sinn bzw. ein Ziel in seinem Dasein.

Quelle: de.wikipedia.orgÜbersicht über die Figuren und ihre Beziehungen zueinander

Quelle: de.wikipedia.org

Nicht nur Lewins Entwicklung und Überzeugungen tragen biografische Züge von Tolstoi, auch sein Werben um die zukünftige Ehefrau soll sich so ähnlich wie im Roman abgespielt haben. In dem Film „Ein russischer Sommer“ (im Original „Last Station“) über Tolstois letzte Lebensmonate erzählt er seinem Sekretär, wie er Sofija einzelne Buchstaben aufschrieb, die jeweils für den Anfang eines Wortes standen und zusammen einen Satz ergaben – und nach einer kleinen Anfangshilfe konnte sie den Satz tatsächlich lesen, ein Zeichen dafür, dass sie ihn verstand. Und genau so spielt es sich zwischen Konstantin und Kitty ab:

»Bitte, sehen Sie her«, sagte er und schrieb folgende Anfangsbuchstaben hin: A, S, m, a: E, k, n, s, b, d, n, o, n, d? Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Sie mir antworteten: ›Es kann nicht sein‹, bedeutete das niemals oder nur damals?« Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen langen Satz sollte verstehen können; aber er blickte sie mit so ängstlicher Spannung an, als hinge sein Leben davon ab, ob sie diese Worte verstehen werde oder nicht.

Sie sah ihn ernst an; dann stützte sie die gerunzelte Stirn auf die Hand und begann zu lesen. Bisweilen schaute sie ihn dabei an und fragte gleichsam mit dem Blicke: ›Bedeutet es das, was ich denke?‹ »Ich habe es verstanden«, sagte sie endlich errötend.

»Was ist das für ein Wort?« fragte er und zeigte auf das n, das »niemals« bedeutete. »Dieses Wort heißt ›niemals‹«, antwortete sie. »Aber dieses Wort sagt nicht die Wahrheit.« Er wischte das Geschriebene schnell weg, reichte ihr die Kreide hin und stand auf. Sie schrieb: D, k, i, n, a, a. Dolly fühlte sich über den Kummer, den ihr das Gespräch mit Alexei Alexandrowitsch bereitet hatte, völlig hinweggetröstet, als sie diese beiden Gestalten nebeneinander sah: Kitty, die, die Kreide in der Hand, mit einem schüchternen, glückseligen Lächeln zu Ljewin in die Höhe blickte, und seine hübsche Gestalt, die sich über den Tisch beugte, mit den leuchtenden Augen, die sich bald auf den Tisch, bald auf sie richteten. Plötzlich strahlte er über das ganze Gesicht: er hatte verstanden. Es bedeutete: »Damals konnte ich nicht anders antworten.«

Vermutlich konnte ich mit 16 die literarische Bedeutung und den Wert noch gar nicht einschätzen, aber instinktiv fühlte ich mich zu wirklich hochkarätigen Büchern hingezogen statt etwas eher meinem Alter entsprechendes zu lesen. Und „Anna Karenina“ faszinierte mich außerordentlich, etwas weniger als Tolstois zweite Großtat „Krieg und Frieden„, das ich überaus liebe, aber einzelne Szenen haben sich mir ins Gedächtnis geprägt. Natürlich steht Anna als Beispiel der gefallenen Frau in einer Reihe mit Madame Bovary und Effi Briest, doch während sich die beiden anderen eher aus Naivität bzw. Langeweile ihren Verführern hingeben, hat man bei Anna das Gefühl, dass sie es – einmal beschlossen – mit ganzem Willen tut, sich allen Grenzen widersetzt, weil es kein Zurück gibt, nur ein Vorwärts. Doch damit erpresst sie auch Wronskij, dem sie mit wahnhafter Eifersucht zusetzt (weiß sie doch um seine Vergangenheit): Sie hat alles für ihn aufgegeben, warum füllt er dann nicht die Lücke, die er in ihr Leben riss? Sie kämpft für Selbstbestimmung in einer Gesellschaft, die ihr diese verweigert (und das Recht, auch nach der Scheidung die Fürsorge für ihren Sohn zu behalten), und um bestimmte, nur Männern vorbehaltene Privilegien: Ihr Bruder nimmt es mit der Treue nicht so genau und verliert deshalb keinen Deut seines Ansehens, warum gilt dies nicht für sie, der es mit der Liebe viel ernster ist? Diese psychologischen Auseinandersetzungen und sozialen Muster sind unglaublich reizvoll und detailliert vom Autor ausgearbeitet. Neben all dem Drama gibt es aber auch Momente des Humors und des Friedens (zum Beispiel Lewins Schnepfenjagd), die dem Buch einen ganz besonderen Rhythmus geben. Es steht bei mehreren Verlagen im Programm (Aufbau, Hanser, Diogenes) und erst vor wenigen Jahren erschien eine glänzende Neuübersetzung. Anna Karenina mag im Roman gestorben sein, doch in den Herzen von uns Lesern ist sie unsterblich, für immer wunderschön, leidenschaftlich und verzweifelt.

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Quelle: theepitomeofquiet.wordpress.com

Audrey hat nie Anna Karenina gespielt, doch in den Pariser Modeaufnahmen im Film „Funny Face“ posiert sie als solche und die nötige Anmut hat sie auf jeden Fall

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