Ein Monat - ein Buch

Juli 20013: George Eliot – Silas Marner

Sollte ich einmal überhaupt nicht wissen, welches Buch als nächstes auf meiner Leseliste steht, greife ich im Zweifelsfall zu einem meiner geliebten viktorianischen Klassiker: Ob Dickens, Hardy oder Eliot, keiner hat mich je enttäuscht und Realismus, Dramatik und interessante Charaktere findet man zuverlässig bei ihnen. Für mich ist es die perfekte Verbindung von Unterhaltung mit einem gewissen Maß an Anspruch, wie ich ihn sonst nirgends finde. Nach „Middlemarch“ und „Adam Bede“ war mein dritter Roman von George Eliot also „Silas Marner“, angenehm dünn, um es neben einem umfangreichen Sammelband von Stephen King und einer erstaunlich trockenen Biografie von George Harrison („I Me Mine“, lohnt sich trotzdem vor allem wegen der interessanten Fotos und handschriftlichen Liedtexte) noch einzuschieben. Der Juli 2013 war durchgängig sehr warm – zumindest für englische Verhältnisse –, aber an einem schattigen Plätzchen am Fluss ließ es sich gerade noch aushalten und dort ging ich jeden Mittag zum Lesen hin.

Quelle: simania.co.il

Als typisches Eliot-Werk spielt „Silas Marner“ im ländlichen Raum der Midlands, im fiktiven Dorf Raveloe. Die Titelfigur findet dort Zuflucht, nachdem er in einer Industriestadt in Nordengland Verrat und Verleumdung erfahren hat. Verbittert und enttäuscht von der Welt, schottet er sich von seinen Mitmenschen ab und strebt nur noch danach, möglichst viel Geld anzuhäufen, das er sich mit Weben verdient. Er will damit nichts kaufen, sondern spart es einfach nur und erfreut sich daran, die Münzen zu stapeln und anzusehen. Doch eines Tages wird sein kostbarer Schatz gestohlen, was ihn vollends aus der Bahn wirft. Bis er kurz darauf an der Stelle in seinem Cottage, wo zuvor das Gold versteckt war, ein kleines Kind findet, das auf mysteriöse Weise von draußen zu ihm gekommen sein muss.

Turning towards the hearth, where the two logs had fallen apart, and sent forth only a red uncertain glimmer, he seated himself on his fireside chair, and was stooping to push his logs together, when, to his blurred vision, it seemed as if there were gold on the floor in front of the hearth. Gold!—his own gold—brought back to him as mysteriously as it had been taken away! He felt his heart begin to beat violently, and for a few moments he was unable to stretch out his hand and grasp the restored treasure. The heap of gold seemed to glow and get larger beneath his agitated gaze. He leaned forward at last, and stretched forth his hand; but instead of the hard coin with the familiar resisting outline, his fingers encountered soft warm curls. In utter amazement, Silas fell on his knees and bent his head low to examine the marvel: it was a sleeping child—a round, fair thing, with soft yellow rings all over its head.

Silas beschließt, das Mädchen als göttliche Fügung zu betrachten (quasi als „Ersatz“ für den gestohlenen Goldschatz) und bei sich zu behalten. Er tauft es „Hephzibah“ nach seiner früh verstorbenen Schwester, aber der allgemeine Rufname wird „Eppie“. Sie ist sein Ein und Alles und hilft ihm schließlich, in Kontakt mit den anderen Dorfbewohnern zu treten und ein Teil der Gemeinschaft zu werden. So vergehen 15 Jahre, Eppie wird zu einer jungen, allseits beliebten Frau – doch noch ist weder das Geheimnis um ihre Herkunft noch um den Verbleib von Silas‘ Geld geklärt. Allerdings könnte Godfrey Cass, der Gutsherr von Raveloe, einiges dazu sagen, doch hat er seine Gründe, zu schweigen …

In old days there were angels who came and took men by the hand and led them away from the city of destruction. We see no white-winged angels now. But yet men are led away from threatening destruction: a hand is put into theirs, which leads them forth gently towards a calm and bright land, so that they look no more backward; and the hand may be a little child’s.

Die zeitlose Parabel über einen Mann, der seine materiellen Güter verliert und dafür menschliche Zuneigung sowie seinen verlorenen Glauben an das Gute im Menschen (und an Gott) wiederfindet, wird von Eliot ohne unnötige Schnörkel und ohne falschen Kitsch erzählt. Am Ende hätte sie leicht aus Eppie eine Art Aschenputtel machen können, das aus einfachen Verhältnissen kommt und später die ihr zustehenden Privilegien einer noblen Geburt erhält. Doch als diese Chance kommt, lehnt das Mädchen dies ab und will lieber in der ihr vertrauten Dorfgemeinschaft bleiben, bei ihrem Bräutigam und ihrem geliebten Ziehvater. Man spürt die Liebe, die die Autorin für die ländlichen Midlands hat und die auch in ihren anderen Werken deutlich wird. Dabei wird die Zeit und die Situation vor der Industrialisierung durchaus leicht verklärt; ist es doch in einer dieser Fabrikstädte, wo Silas zuerst seinen guten Ruf und dann seine Braut verliert, während Raveloe bzw. seine Bewohner mit der Zeit eine heilende Wirkung für ihn haben. Auch eine gewisse Verdorbenheit und Verantwortungslosigkeit der herrschenden Klasse wird angeprangert, selbst wenn die böse Tat im Roman bestraft und am Ende positive Folgen hat. Obwohl „Silas Marner“ zu George Eliots weniger bekannten Werken gehört, sollte es sich kein Freund der englischen Literatur entgehen lassen. Es hat meine Wertschätzung für diese viel zu wenig gelesene Meisterin des Realismus noch erhöht.

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