Schon länger habe ich keinen Beitrag in der Kategorie „Einmal und nie wieder“ veröffentlicht, weil es nur sehr selten vorkommt, dass ich ein Buch so harsch beurteile. Ab und zu langweilt mich ein Buch oder ich habe es nach kurzer Zeit wieder vergessen, was vielleicht ein Hinweis auf seine mäßige Qualität ist, aber bei den wenigsten würde ich hinterher sagen: „Mann, was war das für ein Schrott, das möchte ich mir nie wieder antun.“ Alas, Simmels „Es muss nicht immer Kaviar sein“ rief eine solche Reaktion bei mir hervor und so ist es nur recht und billig, dass ich ihn hier einsortiere.

Quelle: amazon.de
Das Seltsame ist, dass andere Leser den Roman richtig toll fanden, wie ich sowohl durch eine kurze Internet-Recherche als auch in einem Gespräch mit einer Freundin erfuhr. Er war bei Erscheinen Anfang der sechziger Jahre ein großer Verkaufsschlager und diente als Vorlage für einen Film und eine Serie. Nun ja, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Wobei „Geschmack“ ein gutes Stichwort ist, schließlich geht es im Buch um die Kochleidenschaft von Thomas Lieven, dem „Spion wider Willen“, die ihm so manches Mal aus einer brenzligen Situation rettet, ihm hilft, einen Bösewicht zu überführen oder die Leidenschaft einer schönen Frau zu wecken. Unschuldig gerät der arme Junge zu Beginn des 2. Weltkriegs in die Fänge der Gestapo und nur seine Verpflichtung als Agent erspart ihm ein frühes Ende. Doch kaum zurück in London, wo er zuvor eine Privatbank leitete, wird er überführt und muss nun auch für die Briten spionieren. Das gleiche in Frankreich. Wie passend, dass er akzentfrei alle drei Sprachen beherrscht und so mühelos mit seinen diversen Identitäten jonglieren kann. Lieven versucht, möglichst für keine Seite zu arbeiten, aber auch keiner aktiv zu schaden, sondern bereichert sich etwa an korrupten Nazis, fälscht in Lissabon Pässe, damit verfolgte Personen nach Südamerika emigrieren können und ist in der Schmugglerszene von Marseille aktiv. Ständig ist sein Leben in Gefahr, weil er beispielsweise von rachsüchtigen Ex-Geliebten verraten wird. Die Frauen fallen ihm reiheweise zu Füßen, nicht ohne sich zuvor entweder eiskalt oder raubtierhaft-kratzbürstig gezeigt zu haben – dafür sind sie dann nach erfolgreicher Eroberung umso leidenschaftlicher. Thomas‘ Abenteuer sind wie ein endloser James Bond-Film, nur noch hundertmal klischeehafter, unwahrscheinlicher und ohne die technischen Gadgets, dafür immer mit dem passenden Rezept. Natürlich ist unser Held äußerst gutaussehend, kultiviert und mit perfekten Manieren und seine Kochkünste überzeugen selbst den größten Feinschmecker. Auch bei heiklen Entscheidungen schafft er es immer, seine Integrität zu bewahren und moralisch „richtig“ zu handeln. Und nach Kriegsende räumt er nicht nur unter Kriegsverbrechern und -geschäftemachern auf, sondern überführt auch einen sowjetischen Top-Spion in New York, bevor er dank einer Gesichtsoperation und einer falschen Leiche endlich wieder ein normales, anonymes Leben führen kann.
»Meine liebe Kitty«, sagte Thomas Lieven, »Sie sind hübsch, Sie sind jung, zweifellos werden Sie noch eine Menge lernen müssen. Wollen Sie von mir etwas lernen?«
»Mit Freuden«, hauchte Kitty, diesmal sehr atemlos.
»Gut, ich werde Ihnen das Rezept verraten, wie man Kopfsalat schmackhaft macht. Was haben wir bisher getan?«
Kitty knickste. »Vor zwei Stunden haben wir zwei mittelgroße Salatköpfe gewässert, gnädiger Herr. Dann haben wir die harten Stiele entfernt und nur die zarten Blätter ausgesucht …«
»Was haben wir mit den zarten Blättern gemacht?« forschte er weiter. »Wir haben sie in eine Serviette getan und die Serviette mit den vier Zipfeln zusammengeknotet. Dann haben Sie, gnädiger Herr, die Serviette geschlenkert …«
»Geschleudert, liebe Kitty, geschleudert, um den letzten Tropfen Flüssigkeit herauszuholen. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Blätter vollkommen trocken sind. Doch wollen wir jetzt unsere Aufmerksamkeit der Zubereitung einer Salatsauce zuwenden. Reichen Sie mir bitte eine Glasschüssel und ein Salatbesteck!«
Als Kitty zufällig die lange, schlanke Hand ihres Arbeitgebers berührte, durchlief sie ein süßer Schauder. Was für ein Mann, dachte sie …
Was für ein Mann – das hatten auch unzählige Menschen gedacht, die Thomas Lieven in den vergangenen Jahren kennenlernten. Von welcher Art diese Menschen waren, mag daraus hervorgehen, was Thomas Lieven liebte und was er hasste.
Thomas Lieven liebte:
schöne Frauen, elegante Kleidung, antike Möbel, schnelle Wagen, gute Bücher, kultiviertes Essen und gesunden Menschenverstand.
Thomas Lieven hasste:
Uniformen, Politiker, Krieg, Unvernunft, Waffengewalt und Lüge, schlechte Manieren und Grobheit.
[allein bei diesem Auszug stehen mir die Haare zu Berge, er findet sich auf den ersten Seiten und es wird nicht besser]
Was man dem Roman während der Lektüre leider ganz offensichtlich anmerkt, ist sein Alter: er erschien 1960 und dieser Umstand bestimmt den Stil von Simmel. Sex hatte damals noch dieses leicht Schwüle, Unanständige; jede Andeutung darauf versprüht den Macho-Charme eines Witzes, der an leicht ergraute Herren gerichtet ist, die darauf mit einem anzüglichen Grinsen antworten. Ich fand diese Stellen einfach nur ärgerlich und dumm. Es war auch völlig legitim, offen homophob zu sein und eine unverschämt klischeehafte schwule Figur in die Handlung einzubauen (feist, „weibisch“, parfümiert, lüstern und geldgierig). Mehrfach stolperte ich über das Wort „Neger“: so selbstverständlich es damals noch gebraucht wurde, ist es heutzutage ein absolutes No-Go. Ich finde die Debatten, ob man es beispielsweise aus Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ oder Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ entfernen sollte, hoffnungslos übertrieben und trotzdem störte ich mich daran, weil es diese abschätzige, beiläufig rassistische Note hat (selbst wenn Thomas Lieven betont, wie sehr er die „Negertänzerin“ Josephine Baker verehrt, die er ebenfalls bekochen darf und die den titelgebenden Satz sagt: „Es muss nicht immer Kaviar sein.“). Vielleicht ist es unser modernes Übermaß an Political Correctness, aber ich zuckte fast körperlich zusammen.
Last but not least, ist das Buch überlang, mit einer unglaubwürdigen Episode nach der anderen, die schnell ineinander verschwimmen, weil sie immer nach dem gleichen Muster gestrickt sind. So viel zur am Anfang des Romans angegebenen Behauptung, es würde sich um eine reale Biografie handeln, nur der Name der Hauptfigur sei geändert und Simmel hätte ihn persönlich getroffen und ihre Gespräche auf Tonband aufgenommen.
Was ist aus Thomas Lieven und seiner Pamela geworden? Wer hat uns alle seine wüsten Abenteuer erzählt? Wie sind wir überhaupt in die Lage gekommen, über geheime und geheimste Begebenheiten unserer Zeit zu berichten?
Das sind viele Fragen. Wir können sie alle beantworten. Wenn es dazu auch leider nötig ist, dass ein Mann aus dem Schatten tritt, der von Berufs wegen in den Schatten gehört und immer im Schatten zu bleiben hat.
Dieser Mann bin ich. Ich, der Autor …
Wenn das ganze eine Parodie aufs Genre sein soll, dann keine gute. Außerdem spürt man überdeutlich, dass Simmel seinem Publikum nicht auf die Füße treten wollte: Natürlich gibt es im Roman die „bösen Nazis“, aber das sind die da oben, die Strippenzieher und Befehlshaber, nicht die ganz normalen Wehrmachtssoldaten, von denen sich sicher etliche ehemalige unter den damaligen Lesern befanden. Die sollten mit Thomas Lieven sympathisieren und deshalb durfte er kein „Vaterlandsverräter“ sein, der gegen sein eigenes Land und für die französische Résistance arbeitet. Als Engländer getarnt, versucht er genauso, deren Guerillaaktionen zu unterbinden, wie er Schiebereien von Deutschen auf dem Schwarzmarkt im besetzten Frankreich auffliegen lässt. Aber dieses Nicht-anecken-wollen rief bei mir ein sehr unangenehmes Gefühl hervor, er sitzt zwischen allen Stühlen, mit der Absicht, „möglichst viele Menschenleben zu retten“, ohne sich deutlich zu positionieren und ohne dass ihm jemand einen Vorwurf machen könnte. Ich glaube nicht, dass es in der Realität des Krieges so ehrenhaft zugehen kann, irgendwann muss man auch als Tripel-Agent Farbe bekennen. Doch der damaligen Stimmung und vorherrschenden Schutzbehauptung – wir waren nicht schuldig, das war eine kleine Gruppe, der Rest nur Mitläufer – musste in einem Unterhaltungsroman selbstverständlich Rechnung getragen werden. Dass der Autor auch leise Kritik an der damaligen Zeit übt, etwa an der innerdeutschen Teilung oder am Umstand, dass ehemalige Nazis oft schnell wieder Fuß fassen konnten, macht diesen Makel in meinen Augen nicht wett.
Das einzig Gute, was ich über „Es muss nicht immer Kaviar sein“ sagen kann, ist, dass er sich „so weg liest“, wie ich es nenne; man schafft problemlos an einem Stück 30, 50 Seiten und das ist bei 650 Seiten insgesamt ja nicht schlecht: Wenigstens ist man schnell durch. Die in die Handlung eingebundenen Rezepte der Dreigängemenüs inspirierten mich nicht zum Nachkochen, zum einen fand ich sie zu aufwändig (und ich bin kein großer Hobbykoch) und dann sind sie nicht mehr sehr zeitgemäß, sondern klassische gehobene Nachkriegsküche: der Hauptgang ist fast immer ein Fleischgericht, die Vorspeise oft genug auch, Vegetarisch-Leichtes findet man selten. Freilich muss es nicht immer Kaviar sein, aber eben auch nicht immer Huhn, Rind oder Schwein. Diese Art der Küche ist genauso angestaubt wie der ganze Roman. Danke, Herr Simmel, dieses Buch hat mir etliche Krämpfe beschert.
Auf Ihrer lesenswerten Webseite tummeln sich zahlreiche bessere Bücher als dieses. Dennoch möchte ich zweierlei zur Verteidigung des Herrn Simmel zu bedenken geben. Dass die junge Dame „Was für ein Mann“ schmachtet, ist im Kontext der Zeit zweifellos ironisch zu verstehen. Ein landläufig „ganzer Mann“ war damals gewiss nicht der, welcher dem gewaschenen Salat noch den letzten Wassertropfen entringen konnte. Gerade im Hinblick auf die eben erst vergangene Hitlerei wird hier also ein unpathetischer, witziger Ton angeschlagen. Was nun, zweitens, den „Neger“ angeht, so verstehe ich Ihr Zusammenzucken gut. Das Wort wurde allerdings damals so selbstverständlich und rein deskriptiv gebraucht, dass selbst die afroamerikanischen Schriftsteller der Zeit (Robert Wright, James Baldwin) kein Problem damit hatten, von „negroes“ zu schreiben. Die No-Go’s von heute konnte Simmel damals sowenig kennen, wie wir die No-Go’s von morgen erahnen. Ansonsten Dank dafür, dass Sie Ihre Leseabenteuer teilen.
Aus dieser Perspektive gesehen, haben Sie zweifellos recht. Für die damaligen Leser war die Hauptfigur sicherlich eine erfrischend andere Art von „Held“, als die zur Nazi-Zeit propagierten. Und wie gesagt, ich möchte auf keinen Fall, dass Wörter, die uns heute sauer aufstoßen, im Nachhinein getilgt werden. Vermutlich sollte man den Roman als eine Art Zeitreise in die Wirtschaftswunderjahre betrachten. Simmels Erfolg verrät jedenfalls eine Menge über die damaligen Befindlichkeiten der Deutschen.