Ein Buch - mehrere Monate

Thomas Mann – Der Zauberberg

Nachdem ich im Januar 2005 „Die Buddenbrooks“ gelesen hatte und es mir überraschend gut gefallen hatte, gedachte ich im darauffolgenden Jahr, mich an Manns zweites großes Werk, „Der Zauberberg“, zu wagen. An die Lektüre erinnere ich mich noch gut, denn sie war längst nicht so einfach wie bei Manns Erstlingswerk: Die seitenlangen philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen zwischen zwei der Romanfiguren nervten mich gewaltig. Meine Lieblingsszene war die, in der Hans Castorp eine Skiwanderung unternimmt und dabei fast ums Leben kommt: Da passiert endlich mal was, er bricht aus der Dämmerwelt des „Zauberbergs“ aus. Keiner kann das Vergehen von ereignisloser Zeit so gut beschreiben wie Thomas Mann, das steht fest. Das gleiche passierte mir immer in meinen Sommerferien: Sechs Wochen rumgegammelt und zack!, waren sie vorbei.

Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen! Eine Erzählung, die ginge: »Die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit« und so immer fort, – das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre, als wollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das – für Musik ausgeben. […]

Tja, Mann kannte John Cages Stück „Organ²/ASLAP“ noch nicht. Aber ich schweife ab. Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Hans Castorp, der an einem Tag Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Bahn von Hamburg nach Davos in die Schweiz fährt, um seinen Vetter Joachim Ziemßen im Sanatorium zu besuchen. In diese „Luftkurorte“ wurden damals an Lungen- und Atemwegserkrankungen (meist Tbc) leidende Personen geschickt, um sich zu erholen oder auch zu sterben. Eine direkte medizinische Behandlung gibt es kaum, stattdessen werden den Patienten Liegekuren verordnet und sie werden regelmäßig geröntgt. Bei einer solchen Röntgenaufnahme, die Castorp eher spaßeshalber machen lässt, wird „eine feuchte Stelle“ in seiner Lunge entdeckt. Er fühlte sich seit Ankunft bereits etwas fiebrig und schließt sich schnell dem gängigen Tagesablauf im Sanatorium mit festen Aufsteh-, Essens- und Ruhezeiten an, sodass seine Einbehaltung als Patient fast als etwas Natürliches erscheint.Ein Fieberthermometer für die tägliche Messung hat er sich auch bereits besorgt.

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Quelle: fischerverlage.de

Er macht die Bekanntschaft diverser anderer Patienten, darunter die der verführerischen Madame Chauchat, des dicken, einfältigen Mynheer Peeperkorn, der kichernden, nach Apfelsinen duftenden Marusja sowie der zwei Kontrahenten Settembrini und Naptha, der eine humanistischer Freimaurer aus Italien, der andere ein zum Katholizismus konvertierter, nihilistischer Jude aus Galizien. Beide werden so etwas wie Castorps Mentoren und beeindrucken den jungen Mann in ihren Streitgesprächen mit ihrem großem Wissen auf theologischem, philosophischem und politischem Gebiet. Es ist gut, dass diese etliche Seiten füllen, denn an tatsächlichen Ereignissen ist die Handlung, wie schon erwähnt, recht arm. Im Laufe der Zeit sterben einige Patienten, Joachim unternimmt eine Art Fluchtversuch und reist zurück in die Heimat, wo sich sein Leiden aber nur verstärkt und er, zurück auf dem „Zauberberg“, daran stirbt. Hans Castorp selbst verliert den Überblick über die Monate und Jahre, er scheint wie in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein, aus dem er sich weder befreien kann noch will. Die ursprünglich beabsichtigte Laufbahn als Schiffsingenieur scheint der verwaiste Kaufmannssohn fast erleichtert auszusetzen, er kann es sich leisten, nicht zu arbeiten und erhält hier im Sanatorium, umgeben von Krankheit und Tod, die Gelegenheit, sich den geistigen Dingen zuzuwenden, besucht beispielsweise Vorträge zur Psychoanalyse. Versuche seiner Familie, ihn zurückzuholen, etwa durch den Besuch seines Onkels (der fast fluchtartig abreist, als er merkt, wie auch er von dem Zauber ergriffen wird), wehrt er erfolgreich ab.

… wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war; […]: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hätte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, auch er selber nicht, denn er scheute sich wohl, sie sich vorzulegen, hätte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommelt und entschieden nicht recht Bescheid gewußt, – eine Erscheinung, nicht weniger beunruhigend als jene vorübergehende Unfähigkeit, die ihn am ersten Abend seines Hierseins befallen hatte, nämlich Herrn Settembrini sein eigenes Alter anzugeben, ja, eine Verschlimmerung dieses Unvermögens, denn er wusste nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei! Das mag abenteuerlich klingen, ist aber so weit entfernt, unerhört oder unwahrscheinlich zu sein, dass es vielmehr unter bestimmten Bedingungen jederzeit jedem von uns begegnen kann: nichts würde uns, solche Bedingungen vorausgesetzt, vor dem Versinken in tiefste Unwissenheit über den Zeitverlauf und also über unser Alter bewahren. Die Erscheinung ist möglich kraft des Fehlens jedes Zeitorgans in unserem Innern, kraft also unserer absoluten Unfähigkeit, den Ablauf der Zeit von uns aus und ohne äußeren Anhalt auch nur mit annähernder Zuverlässigkeit zu bestimmen.

Ein Höhepunkt des Roman ist (nicht nur in meinen Augen) Castorps Skiwanderung im Gebirge, bei dem ein Schneesturm aufkommt, er sich verirrt und Schutz unter einem Schuppendach suchen muss. Dort schläft er erschöpft ein und beginnt zu träumen, schöne und grausame Szenen entstehen vor seinen Augen als Sinnbild, wie der Tod stets die Überhand über alles Gesittete und Wohlgeformte zu gewinnen sucht. Daraus gewinnt er die zentrale Erkenntnis:

Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwärts auf Zehenspitzen in seiner Nähe. Er trägt die Würdenkrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, – das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim! Die Liebe steht dem Tode entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gütige Gedanken. Auch Form ist nur aus Liebe und Güte: Form und Gesittung verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats – in stillem Hinblick auf das Blutmahl. Oh, so ist es deutlich geträumt und gut regiert! Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.

Ob er sich daran erinnert, als wir ihm ganz am Ende der Geschichte auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs begegnen – wer weiß. Auf jeden Fall summt er dort, fast schon manisch, „Am Brunnen vor dem Tore“, das er zuvor im Sanatorium immer wieder auf dem Grammophon gespielt hat. Dies ist gegen Ende des Romans (wenn auch nicht von Castorps Aufenthalt: während das erste Jahr ziemlich ausführlich geschildert wird, erscheint der Rest der sieben Jahre sehr gerafft), als allgemein die Stimmung im Berghof verflacht und sich eine große Langeweile breitmacht, gegen die man alle möglichen Ablenkungen sucht – wie eine spiritistische Sitzung, bei der Hans mit seinem toten Vetter Joachim Kontakt aufnimmt –, bis sich die allgemeine Gereiztheit in einem Pistolenduell zwischen Naphta und Settembrini entlädt, bei dem es keinen Sieger gibt. Und dann bricht der Krieg aus, eine überstürzte Abreise beginnt und Hans wird einberufen:

 Er sah sich entzaubert, erlöst, befreit, – nicht aus eigener Kraft, wie er sich mit Beschämung gestehen musste, sondern an die Luft gesetzt von elementaren Außenmächten, denen seine Befreiung sehr nebensächlich mit unterlief.

Wenn wir ihn dann auf den letzten Seiten kämpfend neben seinen Kameraden erleben, in Schlamm und Regen, können wir nur trauern um dieses schreckliche Schicksal – der Autor selbst lässt die Frage um sein Überleben offen, bekennt aber freimütig, nicht wirklich daran zu glauben, schließlich kommen zu viele in diesem sinnlosen Krieg ums Leben.

Thomas Mann hatte 1912 selbst ein Davoser Sanatorium besucht, in dem seine Frau Katia eine Lungenerkrankung auszukurieren versuchte. Seine Eindrücke verarbeitete er in diesem anfangs als Novelle geplanten Roman, an dem er mit Unterbrechungen fast 10 Jahre schrieb und der 1924 erschien. Er ist ein gefundenes Fressen für alle, die Interpretationen und Symbolik lieben oder nach den Vorbildern für die Figuren suchen (Mynheer Peeperkorn soll z. B. Gerhard Hauptmann nachempfunden sein). „Der Zauberberg“ trägt nicht nur einen märchenhaften Namen, die abgeschiedene Welt des Sanatorium mutet bisweilen auch unwirklich wie ein Märchen an, in dem die Menschen in einen tiefen Schlaf fallen, oder wie eine Vorstufe der Unterwelt, voll von Halbtoten. Der stets allgegenwärtige Tod geht Hand in Hand mit Eros (Castorp verliebt sich in Clawdia Chauchat und beginnt eine Affäre mit ihr, sie wiederum bringt später ihren Geliebten Peeperkorn mit) und Hans selbst glaubt, dass Krankheit den Menschen edler und geistig überlegener mache als allzu robuste Gesundheit. Die morbide, dem starken, kräftigen Leben der Gesunden und Tätigen so ferne Atmosphäre übt auf die dafür Empfänglichen jedenfalls einen großen Reiz aus, bis der Donnerschlag des Kriegsbeginns wie eine Art reinigendes Gewitter wirkt, als das er ja auch von den europäischen Staaten geradezu herbeigesehnt wurde. Beides, Krieg und Berghof, sind nach meiner Auffassung nur unterschiedliche Arten einer Vergeudung der Jugend, der eine mäht sie nieder, der andere schläfert sie ein. Letzteres gilt hoffentlich nicht bezüglich der Wirkung des Roman auf den Leser: Vermutlich war ich damals zu jung und ungeduldig, um das Buch mit Verstand zu lesen. Es ist wohl kein Werk, dessen Wert sich auf den ersten Blick erschließt, aber eine Erfahrung, die man nicht missen sollte, und ein Kandidat zum Wieder- und Neulesen im Laufe der Jahre.

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