Ein Buch - mehrere Monate

Stephen King – The Stand

„The Stand“, auf Deutsch als „Das letzte Gefecht“ erschienen, ist neben „It“ wahrscheinlich der ultimative King-Roman, deshalb stand es für mich außer Frage, dass ich ihn früher oder später unbedingt lesen wollte. Allerdings ist er auch sein seitenstärkster, zumindest in der erweiterten Fassung von 1990, die mittlerweile als die definitive gilt und in der Regel die allgemein erhältliche ist. Darum hatte ich ihn mir immer ein bisschen aufgespart, als besonderes Schmankerl, aber auch aus Zeitgründen. Im Juli 2015 beschloss ich nun, an meine gute, alte Tradition anzuknüpfen, im Sommer einen dicken King-Wälzer zu lesen, und holte mir „The Stand“ aus der Bücherei. Erwartungsgemäß brauchte ich nicht allzu lange, um ihn durchzuschmökern (schätzungsweise vier Wochen), dazu war er viel zu spannend und dramatisch.

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Quelle: roguehighways.com

Wie z. B. auch in „Die Arena“ spielt King ein „Was wäre, wenn“ durch, bis zum bitteren Ende und darüber hinaus. In „The Stand“ stellt er sich die Frage, was passierte, wenn so gut wie die gesamte Bevölkerung der USA innerhalb weniger Wochen von einem Killervirus dahingerafft würden. Dies ist kein Buch, das großen Optimismus und gute Laune verbreitet, zumindest nicht auf den ersten 400, 500 Seiten, wo wir viele der späteren Hauptcharaktere kennenlernen, die alle mit dem Tod ihrer Mitmenschen und Familienmitgliedern fertig werden müssen, während sich gleichzeitig die gesamten gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Strukturen auflösen. Alles nur, weil ein vom Geheimdienst gezüchteter tödlicher Virus, „Captain Trips“ genannt, aus einem Hochsicherheitslabor ausbricht und es einem der dort stationierten Militärs gelingt, im allgemeinen Chaos das Gelände zu verlassen. Natürlich ist er längst infiziert und als sein Auto in einem gottverlassenen Ort in Texas eintrudelt, befinden sich im Wagen zwei Leichen und ein bewusstloser Fahrer. Damit ist es passiert, das Ausbreiten des Virus lässt sich nicht mehr stoppen und immer mehr Menschen erkranken an etwas, was sie zunächst für eine harmlose Grippe halten, woran sie jedoch unweigerlich sterben.

On June 18, five hours after he had talked to his cousin Bill Hapscomb, Joe Bob Brentwood pulled down a speeder on Texas Highway 40 about twenty-five miles east of Arnette. The speeder was Harry Trent of Braintree, an insurance man. He had been doing sixty-five miles per in a fifty-mile-an hour zone. Joe Bob gave him a speeding ticket. Trent accepted it humbly and then amused Joe Bob by trying to sell him insurance on his house and his life. Joe Bob felt fine; dying was the last thing on his mind. Nevertheless, he was already a sick man. He had gotten more than gas at Bill Hapscomb’s Texaco. And he gave Harry Trent more than a speeding summons.

Harry, a gregarious man who liked his job, passed the sickness to more than forty people during that day and the next. How many those forty passed it to is impossible to say -you might as well ask how many angels can dance on the head of a pin. If you were to make a conservative estimate of five apiece, you’d have two hundred. Using the same conservative formula, one could say those two hundred went on to infect a thousand, the thousand five thousand, the five thousand twenty-five thousand.

Under the California desert and subsidized by the taxpayers‘ money, someone had finally invented a chain letter that really worked. A very lethal chain letter.

Warum einige gegen die Supergrippe immun sind, wird nie geklärt, auch wenn einer der ersten Fälle schleunigst unter Quarantäne gestellt und sorgfältig untersucht wird. Dieses seltene Exemplar entwickelt sich im Laufe der Handlung zu unserem Haupthelden: Stu Redman. Wir lernen weitere Überlebende kennen, etwa die schwangere Fran Goldsmith, die mit eigenen Händen ihren Vater begraben muss und sich dann mit dem nerdigen Harold Lauder aufmacht, um eventuelle weitere Überlebende zu finden. Schließlich will man nicht allein in einer Geisterstadt mit den Häusern voller Toten leben … So geht es wohl allen, die nicht an der Grippe sterben. Der taubstumme Nick Andros handelt sich Ärger mit einigen Schlägertypen ein und wird während der Epidemie zum Hilfssheriff ernannt, bevor er von Arkansas nach Nebraska radelt und dabei den geistig behinderten Tom Cullen trifft, mit dem ihm bald eine enge Freundschaft verbindet, obwohl Tom Nicks geschriebene Mitteilungen (seine einzige Möglichkeit der Kommunikation) nicht lesen kann. Der gescheiterte Musiker Larry Underwood muss einen Weg aus New York finden, der durch den von Autos verstopften Lincoln-Tunnel führt, eine gespenstische Angelegenheit. Denn gleichzeitig gibt es noch viele paramilitärische Einheiten, die offenbar auf Teufel komm raus eine Art Quarantäne versuchen, indem sie keine Leute rein oder raus aus den Orten lassen, notfalls mit Waffengewalt – das heißt, bevor auch sie den typischen Weg der Grippekranken gehen. Ebenso werden Versuche der Presse, über die Epidemie zu berichten, gewaltvoll unterdrückt. Es darf eben nicht rauskommen, dass der ganze Schlamassel Schuld der Regierung ist, auch wenn das bald nicht mehr von Bedeutung ist in diesen Wochen des Massensterbens.

Alle Überlebenden haben eines gemeinsam: Sie träumen von einem dunklen Mann, den sie als eine böse Macht spüren, während ihnen in einem anderen Traum eine alte afroamerikanische Frau begegnet, die für das Gute zu stehen scheint. Die Menschen treffen nun mehr oder weniger instinktiv die Entscheidung, die eine oder andere Partei zu zu ergreifen und lenken daher ihre Schritte entweder Richtung Nebraska, wo Mother Abigail wohnt und auf sie wartet, oder nach Las Vegas (nicht umsonst „Sin City“ genannt), um sich der Herrschaft von Randall Flagg zu unterwerfen. Dieser ist eine Ausgeburt des Teufels, vielleicht sogar dieser selbst, im Buch wird angedeutet, dass er viele Formen und Namen annehmen kann und auch Tiere als seine Helfer einsetzt (etwas Wölfe oder Krähen). Er zieht üble Charaktere an, beispielsweise den pyromanischen, verrückten „Trashcan Man“ oder Lloyd Henreid, der nach einem Amoklauf im Gefängnis sitzt und dort fast verhungert, bis ihn Flagg befreit.

Shall I tell you what sociology teaches us about the human race? I’ll give it to you in a nutshell. Show me a man or woman alone and I’ll show you a saint. Give me two and they’ll fall in love. Give me three and they’ll invent the charming thing we call „society.“ Give me four and they’ll build a pyramid. Give me five and they’ll make one an outcast. Give me six and they’ll reinvent prejudice. Give me seven and in seven years they’ll reinvent warfare. Man may have been made in the image of God, but human society was made in the image of His opposite number, and is always trying to get back home.

Trotz dieser trübsinnigen Prophezeiung versuchen die „Guten“, in Boulder, Colorado, eine neue Zivilisation aufzubauen, auch wenn die Basisdemokratie mit einer wachsenden Einwohnerzahl immer schwieriger wird. Außerdem befinden sich in ihren Reihen Doppelagenten von Flagg, die ihre Ziele zu sabotieren versuchen. Allerdings gelingt es dem „Free Zone Committee“ von Boulder (in dem u. a. Nick, Stu, Fran und Larry sitzen) umgekehrt ebenfalls, in Las Vegas einige Leute einzuschleusen und bekommen von der sterbenden Mother Abigail den Auftrag, sich nach Las Vegas zu begeben, um dem Treiben von Flagg ein Ende zu setzen. Der ist eifrig dabei, die verbleibenden Waffen der gesamten früheren Vereinigten Staaten zu sammeln, um seinen Herrschaftsanspruch zu demonstrieren, während er seine Anhänger durch Brot und Spiele bei Laune hält, solange sie ihm bedingungslose Treue schwören. Ansonsten kann er nämlich ganz schön ungemütlich werden – was einige zu spüren bekommen, nicht zuletzt die Spione aus Boulder und die Delegation des Komitees, als sie in Las Vegas eintreffen. Am Ende kann nur eine Seite Sieger bleiben …

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Quelle: badnecklace.com

Gary Sinise als Stu und Molly Ringwald (ja, die Molly Ringwald aus „Breakfast Club“) in der Miniserie von 1994.

Es ist also die sattsam bekannte Geschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse, die uns doch immer noch zu fesseln mag, auch wenn irgendwie von Anfang weiß, wie es ausgehen wird. Was man nicht weiß, ist, wer am Ende noch übrig sein wird und dieser Aspekt ist immer ein schmerzlicher, weil es eben auch ein paar Gute erwischt, Charaktere, die man über die vielen Seiten hinweg zu schätzen gelernt hat. King ist ein Meister darin, liebenswürdige Figuren aus der Handlung zu schmeißen, um dem Leser damit jedes Mal einen kleinen Schlag in die Magengrube zu versetzen. Das macht die Lektüre jedoch nur reizvoller und emotionaler, wie es überhaupt ein sehr emotionales Buch ist (wie erwähnt, sterben besonders am Anfang viele nahe Angehörige der Hauptfiguren, ihren Schmerz kann man tief mitempfinden).

„I love you, Daddy,“ she said. „I love you, Frannie loves you.“ Her tears fell on his face and gleamed there. She removed his pajamas and dressed him in his best suit, hardly noticing the dull throb in her back, the ache in her neck and arms as she lifted each part of his weight, dressed it, dropped it, and went on to the next part. She propped his head up with two volumes of The Book of Knowledge to get his tie right. In his bottom drawer, under the socks, she found his army medals – Purple Heart, good conduct medals, campaign ribbons and the Bronze Star he had won in Korea. She pinned them to his lapel. In the bathroom she found Johnson’s Baby Powder and powdered his face and neck and hands. The smell of the powder, sweet and nostalgic, brought the tears on again. Sweat slicked her body. There were pitted dark circles of exhaustion under her eyes.

She folded the tablecloth over him, got her mother’s sewing kit, and closed the seam. Then she doubled the seam and sewed again. With a sobbing, whistling grunt, she managed to get his body to the floor without dropping it. Then she rested, half-swooning. When she felt she could go on, she lifted the top half of the corpse, got it to the head of the stairs, and then, as carefully as she could, down to the first floor. She stopped again, her breath coming in quick, whining gasps. Her headache was sharp now, needling into her with quick hard bursts of pain. She dragged the body down the hall, through the kitchen, and out onto the porch. Down the porch steps. Then she had to rest again. The golden light of early evening was on the land now. She gave way again and sat beside him, her head on her knees, rocking back and forth, weeping. Birds twittered. Eventually she was able to drag him into the garden. At last it was done. By the time the last sods were back in place (she had fitted them together down on her knees, as if doing a jigsaw puzzle) it was a quarter of nine. She was filthy. Only the flesh around her eyes was white; that area had been washed clean by her tears. She was reeling with exhaustion. Her hair hung against her cheeks in matted strings. „Please be at peace, Daddy,“ she muttered. „Please.“

Was die erweiterte Fassung angeht, sollte unbedingt gesagt werden, dass keine der zusätzlichen Seite zu viel erscheint. Im Gegensatz, die „OP“ an der Ausgabe von der 1978 scheint mir eine sehr schwere gewesen zu sein, bei der der Autor sich von ganzen Handlungssträngen oder einer tieferen Entwicklung einiger Figuren verabschieden musste. Zwar kann ich die erweiterte Version nicht mehr der gekürzten vergleichen, aber die Geschichte ist nun mal gewaltig und erfordert daher auch eine ganze Menge Seiten, um dem Stoff gerecht zu werden. Und trotzdem fand ich, dass Fragen offen blieben: Wenn es sich wirklich um eine weltweite Epidemie handelt, was geschieht dann in den restlichen Ländern? Und bleibt der Virus so lange bestehen, bis auch der letzte Nichtimmune daran gestorben ist? Man denke nur an Menschen in abgelegenen Gebieten oder auf kleinen Inseln: Würden die überhaupt je damit in Berührung kommen? Im Grunde beantwortet King die Frage ganz am Ende des Buches selbst, als Randall Flagg an einem anderen Ort auf der Erde auftaucht – wer glaubt, er könne jemals besiegt werden, versteht seine Natur nicht – und trotz mangelnder Sprachkenntnisse von den Einwohner dort fast sofort als Führer auserkoren wird. „Das letzte Gefecht“ ist als Titel somit nicht ganz korrekt, denn der Kampf zwischen Gut und Böse ist nie vorbei, solange wir glauben, letzteres für unsere eigenen, ganz persönlichen Zwecke einspannen zu können; sei es als biologische Waffe, um unsere Gegner im Schach zu halten; für unser Streben nach Anerkennung und Liebe oder im Namen irgendeiner Ideologie bzw. Religion.

Der Roman hat das Zeug zum Lieblingsbuch, weil man sich so unglaublich tief darin versenken kann, weil er viele, auch unangenehme, Fragen aufwirft und von absoluter Zeitlosigkeit ist. Jeder wird darin etwas finden, was ihn berührt und fesselt, denn er geht weit über den üblichen Horror-/Dystopie-Stoff hinaus. Eine letzte Warnung: Nicht während der Erkältungszeit lesen – die Fiktion könnte dann leicht eine unheimlich realistische Färbung bekommen.

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