Noch’n Beatles-Buch! Aber das hier ist nicht irgendeine weitere Biografie, nein, es ist die ultimative Geschichte der legendären Fab Four, die alle zukünftigen Bücher über sie überflüssig machen soll. So lautet jedenfalls ungefähr das Ziel von Mark Lewisohn, der sich bereits mit „The Complete Beatles Recording Sessions“ und „The Complete Beatles Chronicle“ als Fleißmeise und Verfasser unverzichtbarer Nachschlagewerke einen Namen bei den Fans gemacht hat. Außerdem arbeitete er am Beatles Anthology-Projekt mit und verfasste die Booklet-Texte für ihre neu aufgelegten Alben. Und nun also als krönendes Meisterwerk diese alles in den Schatten stellende dreibändige Biografie, die sein Lebenswerk werden soll.

Quelle: mojo4music.com
Diese wurde bereits 2005 angekündigt, doch bis der erste Band endlich in den Verkaufsregalen stand, sollten noch einige Jahre vergehen – ursprünglich wurden die Erscheinungsjahre 2008, 2012 und 2016 für die Bände genannt, am Ende kam Volume I im Herbst 2013 raus, das zweite ist mittlerweile für 2020 geplant und das letzte für 2028. Ob dann noch einer der darin Auftretenden unter den Lebenden weilt, ist eine andere Frage. Genau das war auch Lewisohns Antrieb, sich zu Beginn des neuen Jahrtausends an diese Mammutaufgabe zu wagen: Es musste geschehen, solange es noch genügend Zeitzeugen gab, mit denen er Interviews führen konnte. Vor allem für den ersten Band war dies unverzichtbar, denn er deckt die frühen Jahre ab, die Kindheit und Jugend von John-Paul-George-und-Ringo, und verbindet es mit einer kleinen Kulturgeschichte von Liverpool. Lewisohn gräbt tiefer als irgendjemand vor ihm, geht etliche Generationen in jeder Beatles-Familie zurück, um zu verstehen, welche Wurzeln die späteren Superstars hatten und wovon sie geprägt wurden. Für den Autor ist es jedenfalls es kein Zufall, dass diese größte Band aller Zeiten ausgerechnet in Liverpool entstand, von dessen früherem Ansehen als britisches Tor zur Welt in der Nachkriegszeit wenig übrig geblieben war.
Tune In takes the Beatles from before their childhoods right up to the final night of 1962 when, after packing several years into the previous three, they know success is theirs to grasp but have no clue they’re on the cusp of a whole new kind of fame, a white-hot and ever-royal celebrity. These, then, are the formative years, the less visible years, the premadness years – and in many respects the most absorbing and entertaining period of them all. (This can also be claimed for the others, of course.)
What the research yells loudly is that the Beatles didn’t begin to be remarkable when they upped and took over Britain or (all the more amazingly) America and the rest of the world […] Everything was already revved up and running in the halls, houses and streets of an exceptional city, the only place these people could have come from, the only place these events could have happened: Liverpool, that great matrix of Anglo-Celtic alchemy.
Die Jungs spielten in Bombenkratern, mussten zum Teil oft umziehen beim Bestreben, in einer möglichst guten Gegend zu wohnen, und keine ihrer Familien war wohlhabend. Johns Tante Mimi, bei der er aufwuchs, bemühte sich stets darum, „Middle Class“ zu sein und sah den Umgang ihres Neffen mit Arbeiterkindern nicht gern, aber auch sie musste Untermieter aufnehmen, damit das Geld reichte. Und das Leben war tough für einen Jugendlichen in den 1950ern, überall gab es Gangs, Teddy Boys, mit denen man sich besser nicht anlegte und die einen vielleicht trotzdem noch vermöbelten. Kein Wunder, dass John Lennon lange Zeit den starken Macker demonstrierte und immer einen kecken Spruch auf den Lippen hatte – reiner Selbstschutz. Neben der Entwicklung der zukünftigen Fab Four widmet sich Lewisohn auch zwei weiteren wichtigen Männern im Beatles-Universum, die jeder schon oft als „Fünfter Beatle“ bezeichnet wurden: George Martin und Brian Epstein. Ihr Weg wird fast ebenso detailliert nachgezeichnet wie der von JPG+R. Stuart Sutcliffe und Pete Best dürfen natürlich ebenso wenig fehlen. Und immer wieder gelingen dem Autor überraschende neue Erkenntnisse, die man so noch nie gelesen hat, auch wenn man glaubt, wirklich schon alles über die Gruppe zu wissen: Sei es nun die wirkliche Herkunft des Bandnamens, der genaue Ablauf des Wechsels von Pete zu Ringo, oder dass Pauls Träume von einer Musikerkarriere durch eine Schwangerschaft beinahe zunichte gemacht worden wäre …

Quelle: essentially-england.com
Mendips, das Haus, in dem John Lennon aufwuchs – im verglasten Eingangsbereich übte er wegen des schönen Halleffekts Singen und Gitarrespielen
Mit fast 950 Seiten (inkl. Quellennachweis und Anmerkungen) ist es wirklich ein Klopper von Buch, und das ist die „normale“ Ausgabe, die „Extended Special Edition“ kommt dann auf fast das Doppelte. Das wirklich Erstaunliche ist aber, dass es kein unlesbares, theoretisches Werk geworden ist, dass nur von Geschichtsenthusiasten und Hardcore-Fans gelesen werden kann, sondern eine wirklich spannende Zeitreise, auf die man sich mit größtem Vergnügen mitnehmen lässt. Worin man immer wieder schmökern möchte auf der Suche nach kleinen, aber wichtigen Details, die man nirgends sonst findet. Warum sich bisher anscheinend kein deutscher Verlag gefunden hat, der jemanden mit der Übersetzung betraut, ist mir schleierhaft – ich würde es umsonst machen! Und freue mich jetzt schon auf den nächsten Band, auch wenn wir darauf noch einige Jahre warten müssen … Bis dahin habe ich mir vielleicht die erweiterte Ausgabe angeschafft, auf Amazon bereits für knapp 95 Euro erhältlich. Natürlich wäre sie als eBook billiger und leichter, aber die Geschichte meiner Freunde auf dem Kindle zu lesen, würde ihr einen Gutteil des Zaubers nehmen.