Wenn ich ein Genre nicht mag, dann Fantasy – meiner Meinung nach bietet die Realität so viele interessante und wichtige Themen, dass solcher Eskapismus nicht nötig ist (außerdem setzt der Snob in mir „Fantasy“ mit „Trash“ gleich, nichts für den ernsthaften Bildungsbürger). Aber dafür gibt es Leseclubs, die einen aus der Komfortzone rausholen und zur Lektüre von Büchern nötigen, die man normalerweise nicht anfasst. So kam ich nicht nur dazu, mich mal mit der schrägen Welt von Terry Pratchett zu beschäftigen, sondern las mit „Northern Lights“ auch den ersten Band der Trilogie „His Dark Materials“ von Philip Pullman. In Deutschland unter dem Titel „Der deutsche Kompass“ erschienen, hat man 2006 auch eine Verfilmung versucht, die sich jedoch besonders in den USA als großer finanzieller Flop erwies, sodass die beiden übrigen Teile bislang nicht auf die Leinwand kamen.

Quelle: writersedit.com
Vielleicht ist der Stoff in all seinen Facetten auch zu komplex für einen Film. Seine theologische Ebene darf man nicht außer Acht lassen und sie war es, die mich zugegebenermaßen ganz schön herausgefordert hat und die die Bücher zu so viel mehr als bloßen YA-Romanen machen. Am Ende geht es um nichts weniger als den Kampf zwischen „gefallenen“ Engeln und Gott, wobei Gott eben nicht als das Gute dargestellt wird, sondern als alter und seniler Herrscher, dessen Vernichtung Not tut, um die einengende Dogmatik und den Despotismus der Kirche ein für allemal aus dem Weg zu räumen. Und die Welt der Toten ist ein trostloser Ort, in dem die Geister eingesperrt und gezwungen sind, die Ewigkeit zu durchleben, verbittert über das falsche Versprechen eines Paradieses. Sollte dem wirklich sein, dann will ich es nicht wissen.
In Buch 1 befinden wir uns in einer Parallelwelt, die zumindest aus geografischer Sicht ähnlich der unseren ist und in der wir Lyra Belaqua kennenlernen. Das vermeintliche Waisenkind wächst in einer Universitätsstadt auf (deren Äquivalent Oxford sein könnte) unter der Obhut ihres Onkels Lord Asriel. Zufällig kommt sie einem brisanten Geheimnis auf die Spur: Irgendwo im hohen Norden werden schreckliche Experimente an Kindern vorgenommen, bei denen sie von ihrem „Dæmon“ getrennt werden. Dabei handelt es sich quasi um ihre Seele, die jeder Mensch in Tierform sichtbar bei sich hat und der sich nie weit entfernen kann, ohne dass der Besitzer höchste Pein leidet – durch eine völlige Trennung vegetiert man nur noch vor sich hin, es ist somit das schlimmste, was man einem Menschen antun kann.
It was such a strange tormenting feeling when your daemon was pulling at the link between you; part physical pain deep in the chest, part intense sadness and love. Everyone tested it when they were growing up: seeing how far they could pull apart, coming back with intense relief.
Lyras Dæmon heißt Pantalaimon und seine Gestalt ist noch nicht festgelegt, da dies erst in der Pubertät geschieht. Gemeinsam mit ihm versucht das Mädchen, mehr über die verschwundenen Kinder zu erfahren, deren Zahl sich häuft und unter denen auch ihr Spielkamerad Roger ist. Gleichzeitig gerät sie in Konflikt mit der schönen, aber rätselhaften Mrs Coulter, die ihr eine Expedition in den Norden bietet, doch deren Absichten nicht ganz koscher scheinen. Lyra flieht zu den Gyptern, auf Hausbooten lebenden Nomaden, und findet einen Verbündeten in Iorek Byrnison, einem sprechenden, Panzer tragenden Eisbären, der sich im Verlauf der Handlung als treuer Freund und Helfer erweist. Mit ihm und den Gyptern reist sie nordwärts und gelangt schließlich in die Forschungsstation, wo sie fast selbst von Pan getrennt wird, bis im letzten Moment Mrs Coulter einschreitet. Lyra weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass diese ihre Mutter und Lord Asriel ihr Vater ist, was ihr gar nicht behagt. Außerdem erfährt sie den Grund für die gewaltsame Trennung vom Dæmon: Damit soll vermieden werden, dass sich „Staub“ genannte Materie auf Menschen festsetzt, wie es beim Übergang vom Kinds- zum Erwachsenenalter unweigerlich passiert. „Staub“ ist jedoch für die Kirche, die in Lyras Welt großen Einfluss hat, gleichbedeutend mit der Sündhaftigkeit des Menschen und soll daher nach Möglichkeit verschwinden …
We’ve heard them all talk about Dust, and they’re so afraid of it, and you know what? We believed them, even though we could see that what they were doing was wicked and evil and wrong… We thought Dust must be bad too, because they were grown up and they said so. But what if it isn’t? What if it’s—‘
She said breathlessly, ‚Yeah! What if it’s really good…‘
Der „goldene Kompass“, Titelgeber des Films und der deutschen Ausgabe, ist übrigens ein Alethiometer, ein Instrument, mit dem Lyra durch geschicktes Fragen in jeder hilfreiche Antworten erhält, die jedoch teilweise schwer zu deuten sind.
In den zwei Folgebänden „The Subtle Knife“ (dt. „Das Magische Messer“) und „The Amber Spyglass“ (dt. „Das Bernstein-Teleskop“) findet Lyra in Will Parry einen Freund aus unserer Welt, der mit einem Messer Fenster zu Parallelwelten öffnen kann – es gibt unendlich viele. Lord Asriel und Mrs Coulter versuchen, ihre teils gegensätzlichen Ziele durchzusetzen, Will sucht nach seinem Vater und es kommt zu dem erwähnten Kampf gegen Gott, bei dem Engel wie Hexen zugegen sind. Es gibt heroische Opfer, tragische Abschiede und Widerspiegelungen biblischer Motive, etwa als Will und Lyra im dritten Buch kurzzeitig wie Adam und Eva in einer Art Paradies leben. Der Leser trifft auf Figuren, die ihm ans Herz wachsen, wie den Ballonfahrer Lee Scoresby, die Hexe Serafina Pekkala oder die Wissenschaftlerin Mary Malone, die in einer fremden Welt Freundschaft mit den Mulefa schließt, elefantenähnlichen, intelligenten und freundlichen Wesen.

Quelle: amh-camelbag.de
Plakat zum Film „Der Goldene Kompass“, mit Nicole Kidman als Marisa Coulter und Daniel Craig als Lord Asriel
Die der Handlung zugrundeliegende Philosophie ist für jüngere Leser wahrscheinlich noch gar nicht vollständig zu begreifen, es lohnt sich also auf jeden Fall, die Bücher als Erwachsener (wieder) zu entdecken. Man hat auf der einen Seite eine spannende Fantasy-Geschichte, die ein Auf und Ab der Emotionen verspricht, auf der anderen Seite aber eben auch die Religionskritik, für die Pullman überraschend wenig Kritik einstecken musste, anders als etwa die sehr viel erfolgreicheren „Harry Potter“-Bände:
I’ve been surprised by how little criticism I’ve got. Harry Potter’s been taking all the flak… Meanwhile, I’ve been flying under the radar, saying things that are far more subversive than anything poor old Harry has said. My books are about killing God.
Und nicht nur das: beispielsweise ist Mary Malone eine ehemalige Nonne, die sich nicht mehr den Zwängen des Klosterlebens unterwerfen will, und die Angehörigen der Kirche in Lyras Welt werden allgemein als Eiferer dargestellt, die alles „Ketzerische“ ausrotten wollen. Wenn man nicht wie der Autor Agnostiker bzw. Atheist ist, liest man die Bücher (insbesondere Teil 2 und 3) möglicherweise mit gemischten Gefühlen und beginnt, seinen eigenen Glauben oder sein Gottesbild zu hinterfragen. So wurde ich also nicht allein durch das Genre bei der Lektüre aus meiner Komfortzone herausgeholt, und vermutlich ist das auch gut so. Pullman gibt Denkanstöße, wie man sie in einem Jugendbuch nicht unbedingt vermuten sollte und zeigt mal wieder, wie falsch man mit Vorurteilen liegen kann.
Eine tolle Trilogie mit genialen Ideen und toller Umsetzung. Ich wünsche den Büchern noch viele Leser und finde es schade, dass die Verfilmung nicht fortgesetzt wurde. Mir hatte sie (unabhängig vom Buch) gut gefallen.