Dieses Buch hat mich 2016 von allen gelesenen am meisten beeindruckt und begeistert. In einem Rückblick auf das Literaturjahr 2015 der „Zeit“ wurde es empfohlen, daher landete es auf meiner Leseliste, aber eher unter „ferner liefen“. Und dann fand ich es ganz zufällig in meiner lokalen englischen Bibliothek und nahm es mit. Ein Glücksfund also, und ich sollte ihn nicht bereuen.

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Der erste Eindruck vom Buch: Es ist erstaunlich dick, weil auf schwerem, glatten Papier gedruckt. Der Text ist jedoch ansprechend und großzügig präsentiert, sodass man die 500 Seiten schneller durch hat als gedacht. Woran auch der Autor nicht ganz unschuldig ist: Selbst wenn man, wie ich, vor der Lektüre nie zuvor die Schubertsche Vertonung der Gedichte Wilhelm Müllers (die übrigens in anderer Reihenfolge als vom Verfasser beabsichtigt dargeboten werden) gehört hat, liest man mit Freuden seine Ausführungen zu jedem der 24 Lieder. Was mir von Anfang an äußerst positiv auffiel, ist – und das mag pedantisch klingen – die korrekte Schreibweise von deutschen Wörtern. Damit ist es in vielen englischsprachigen Büchern leider nicht zum Besten bestellt, was mich stets erheblich stört, denn schließlich werden die Texte lektoriert, aber wenn ein deutsches Zitat oder auch nur einige Wörter darin stehen, scheint es zu viel Aufwand zu sein, einen Muttersprachler zur Prüfung heranzuziehen, vielleicht in der Annahme, dass der fremdsprachenunkundige Leser Fehler sowieso nicht merkt. Ian Bostridge nun zeigt eine fundierte Kenntnis der deutschen Sprache, wodurch ihm nicht nur eine Übertragung der Texte ins Englische gelingt, sondern er auch Überlegungen zu einzelnen Begriffen wie das „fremd“ im ersten Lied „Gute Nacht“ („Fremd bin ich eingezogen …“) und dessen Bedeutungen anstellen kann. Man merkt, wie intensiv er sich mit dem Zyklus auseinandergesetzt, um die Interpretation eines jeden Lieds gerungen hat, denn das Besondere an Bostridge ist, dass er nicht nur über die „Winterreise“ schreibt, sondern sie auch unzählige Male selbst vorgetragen und auf Tonträgern veröffentlich hat: Er ist ein renommierter Tenor und erhielt bereits den britischen Orden CBE für seine Verdienste um die Musik. Nicht umsonst lautet der Untertitel seines Buchs „Anatomy of an obsession“: Schubert und sein Werk begleiten ihn von Jugend an, für das britische Fernsehen drehte er Ende der 90er sogar einen Film über die „Winterreise“. Ein Radio-Interview mit dem Autor zu seiner Leidenschaft für den Songzyklus findet sich hier.
Auch mein persönliches Temperament spielte hinsichtlich meiner Lieder-Leidenschaft eine wichtige Rolle, denn ich hielt mich an der Musik und den Texten fest, um durch die Tücken und schmerzvollen Erfahrungen der Adoleszenz hindurch zu finden. Der andere Wilhelm Müller-Zyklus, der erste – Die schöne Müllerin –, war wie geschaffen für meine ganz besonders romantische Gemütslage. Ich glaubte, ich hätte mich in ein Mädchen verliebt, das in meiner Straße wohnte, meine unbeholfenen Aufmerksamkeiten blieben jedoch zunächst unbeachtet und wurden dann abgewiesen, und in meiner Einbildung, vielleicht auch in Wahrheit ging sie eine Verbindung mit einem sportlichen Typen aus dem örtlichen Tennisclub ein. Es erschien mir ganz selbstverständlich, die Straßen Süd-Londons in der Nähe ihres Hauses zu durchstreifen und leise Schubert vor mich hin zu singen, die Lieder von der Liebeswonne und die des wütenden Zurückgewiesenen. Am Ende geht die schöne Müllerin mit dem Macho-Jäger und nicht mit dem einfühlsamen singenden Müllerburschen.
Die Winterreise lernte ich erst ein wenig später kennen, aber ich war bereits vorbereitet. Ich hörte sie in London, gesungen von zwei großen Deutschen – Peter Schreier und Hermann Prey –, aber irgendwie habe ich mir die einzige Chance entgehen lassen, sie mit Fischer-Dieskau und Alfred Brendel zu erleben, die im Royal Opera House, Covent Garden auftraten. Mein erster eigener öffentlicher Auftritt mit der Winterreise fand im Januar 1985 vor etwa 30 Freunden, Lehrern und Kommilitonen in den President’s Lodgings des St John’s College, Oxford statt. Die Leute fragten mich, wie ich mir all die Worte merken könne; die Antwort darauf ist, jung damit anzufangen. Mit Erscheinen dieses Buches werde ich den Zyklus 30 Jahre lang gesungen haben.
Es ist ein Genuss, seine Betrachtungen zu den einzelnen Liedern zu lesen, in die er geschickt Querverbindungen zu Literatur, Geschichte oder Geologie einflicht. So beschäftigt er sich im Kapitel zu „Der Lindenbaum“ mit der (mythischen) Bedeutung dieses Baums in der Vergangenheit, aber auch mit dem Lied selbst, dass zweifelsohne das bekannteste des Zyklus ist und in vereinfachter Form zu einem Volkslied geworden ist. Und das nicht zuletzt in Manns „Zauberberg“ von Hans Castorp noch auf dem Schlachtfeld des 1. Weltkriegs gesungen wurde. In diesem Zusammenhang verweist Bostridge auch auf das Gemälde „Im Etappenquartier vor Paris“, wo ein preußischer Soldat nach dem Einmarsch in einer besetzten Villa am Klavier Schubert darbietet. Und kann man nicht auch Hitlers Russlandfeldzug als „Winterreise“ deuten?

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Ian Bostridge könnte auf diesem Foto glatt selbst als Schuberts Wanderer durchgehen.
Wir erfahren, dass während der „Kleinen Eiszeit“, die noch bis zu Schuberts Lebzeiten andauerte, die Winter sehr viel härter waren, eine Erfahrung, die sich ganz sicher auch in den Liedern niedergeschlagen hat. Dass man „Erstarrung“ auch auf die politischen Verhältnisse nach den Karlsbader Beschlüssen beziehen kann. Wir lesen historische Beschreibungen des optischen Phänomens der „Nebensonnen“, bewundern die symmetrische Schönheit von Schneeflocken auf Fotos des frühen 20. Jahrhunderts und lernen mehr über das Brennen von Holzkohle oder die Liebesschmerzen des gezwungenermaßen unverheiratet gebliebenen Schuberts. Es ist einfach ein unglaublich interessantes Buch, das aber niemals versucht, den Zauber dieser zeitlosen Musik vollends ergründen zu wollen, die vom Komponisten quasi auf dem Totenbett, gezeichnet von der Syphilis, geschrieben wurde. Eher kann man es als eine Liebeserklärung des Autors an das Werk lesen (übrigens widmet er das Buch seiner Frau Lucasta Miller, die er passenderweise die „schöne Müllerin“ nennt). Nebenbei bringt er auch seine Erfahrung aus Auftritten ein, wie er z. B. einmal einen Mann im Publikum weinen sah, ein andermal ein gefeierter Pianist mit der Partitur in der Hand jede gespielte Note verfolgte und seine Missbilligung zum Ausdruck brachte; ob man eine Pause oder Zugabe planen sollte; kurz: welche Stolpersteine und musikalischen Interpretationsmöglichkeiten der Zyklus bietet. Und welche Parallelen es zwischen Schuberts „Leierkastenmann“ und Bob Dylan gibt.
Unser Wanderer ist kein Manfred oder Ancient Mariner. Es besteht auch kein Hinweis darauf, dass der glücklich verheiratete Wilhelm Müller zu der Zeit, als er seine Verse schrieb, die Erfahrungen seines Protagonisten durchlebte (wenngleich eine frühere Liebesbeziehung in Brüssel gegen Ende der Napoleonischen Kriege nützliches Material geliefert haben mag). Sein früheres Leben oder das von Schubert gestalteten sich tatsächlich ganz anders, wie wir noch sehen werden. Bezogen auf Müllers eigene Situation in der Zeit, in der er die Gedichte schrieb, kann der Zyklus allenfalls eine Art Allegorie auf die politische Entfremdung Deutschlands in den postnapoleonischen, von Metternich geprägten Zeiten darstellen. Das wäre jedoch als primäre Lesart kaum überzeugend, auch wenn wir später noch einmal darauf zurückkommen werden. Es handelt sich tatsächlich um eine sehr «domestizierte » Notlage, welche diese existentielle Angst hervorbringt, eine Situation, die in einer Biedermeierwelt wurzelt, weit entfernt von den Melodramen in Scotts Marmion oder Byrons Manfred. Zweifellos war das der Grund, warum Müllers Verse einen solchen Reiz auf den großen Deflator des romantischen Exzesses, Heinrich Heine, ausübten.
Angesichts der schwindenden Popularität klassischer Musik ist es fast ein Wunder, dass der Verleger nicht davor zurückschreckte, dieses Buch überhaupt zu veröffentlichen. Dass es dann weltweit Beachtung und Lobpreis erhielt, verwundert dagegen nicht. Und mit seiner Aufmachung ist es auch ein wunderbares Geschenk für alle, die Schubert, Musik, den Winter oder einfach intelligent geschriebene Sachbücher lieben. Am besten zusammen mit einer CD der „Winterreise“, weil man durch das Lesen mit Sicherheit große Lust bekommt, die Lieder neu oder wieder zu entdecken. Und natürlich gibt Bostridge Empfehlungen, welche Interpretationen er für die gelungensten hält – wenn man denn nicht zu seinen eigenen greifen will.