Auf dieses Buch wurde ich in einer Literaturbeilage zur „Zeit“ im Sommer 2015 aufmerksam (die gleiche, in der eine Kritikerin über Albrecht Schönes Buch „Der Briefschreiber Goethe“ sagte: „Es kommt vor, dass man nichts weiter schreiben will als die kurze Bitte: Lesen Sie dieses Buch, es sagt alles selbst.“ Und sie hatte durchaus recht), wo es als Urlaubsschmöker empfohlen wurde. Ein Jugendbuch über ein ganz normales Mädchen, das unverhofft ein richtiges Abenteuer erlebt, und dabei ohne fantastische Wesen, Zeitreisen oder dunkle Dystopien auskommt – das weckte meine Neugier! So sehr sogar, dass ich es mir gebraucht übers Internet kaufte, ein Strohhalm, zu dem ich während meiner Englandzeit ab und zu griff, um überhaupt noch an neue deutsche Literatur zu gelangen.

Quelle: grandhotel-heiligendamm.de
Zum Inhalt: Die gerade in die Pubertät kommende Charlotte „Charly“ Nowak wird von ihren Eltern ins Ferienlager geschickt, es soll so eine Art Survival-Training/Pfadfinderlager für Mädchen werden, mitten in der brandenburgischen Pampa. Natürlich hat Charly wenig Lust auf das Ganze und es wird nicht viel besser, als sie und die sieben anderen Teilnehmerinnen im Camp angekommen sind. Zuerst verschwindet eine von ihnen, dann verliert die Leiterin Inken die Nerven und auch das Gepäck wurde anscheinend geklaut. Außerdem passieren noch einige unheimliche und dubiose Dinge (sie werden im Waschhaus eingeschlossen, das anschließend mit Wasser vollzulaufen beginnt, jemand hat Blut vergossen, es gibt kryptische Schmierereien), sodass die Mädchen beschließen, abzuhauen und ihren eigenen Abenteuerurlaub zu organisieren. Eine von ihnen kennt auch schon einen geeigneten Ort: einen Wald im Erzgebirge, ihrer Heimat, wo sie bestimmt niemand finden wird. Auf dem Weg dorthin klauen sie nebenbei noch einen Transporter mit einigen Hunden, die getötet werden sollen, weil sie krank, alt oder „problematisch“ sind. Damit wäre die Gruppe vollständig – sieben Mädchen, sieben Hunde. Ein paar Wochen, in denen sie ganz ohne Erwachsene völlig frei und auf sich selbst gestellt sind. Eine Bewährungsprobe für sie alle, aber auch eine Chance, ihr gewohntes Ich abzustreifen und ganz neue Seiten an sich kennenzulernen.
Nach wenigen Minuten standen wir vor einem anderen Stück Wald, wo sich alles verdichtet. Schulterhohe Brennnesseln. Links und rechts nur Brennnesseln. Die Hunde hechelten, und so gaben wir ihnen zu trinken. Es war ordentlich warm geworden inzwischen. Wir hatten die Jacken ausgezogen und an die Rucksäcke gebunden. Nur Antonia hatte ihre angelassen. Sie war blass.
Bea legte ihren Rucksack ab, ihren Hund daneben und verließ uns, als wären wir alle auch entweder Hund oder Rucksack.
So vergingen Minuten, und wir standen still beieinander in einer Situation, in die wir uns selbst hineinmanövriert hatten.
Ich empfand mein Leben gar nicht wie mein Leben.
Es erinnerte nichts mehr daran, wie es war.
Ich begann, anders zu riechen.
Natürlich kann man die Charaktere anfangs grob in Typen einteilen: die Verwöhnte aus reichem Hause (Yvette), die Entspannte (Rike), die rebellische Anführerin (Bea), die freakige Außenseiterin (Freigunda, Mitglied einer Schaustellerfamilie), die halb-erwachsene Schöne (Anuschka), die kleine Ängstliche (Antonia) und die Schüchterne (Charly). Aber alle wachsen sehr schnell über diese Rollen hinaus, streiten, lernen von einander, und keine ist am Ende des Sommers noch die alte.
Je mehr unsere Vorher-Leben zu uns durchdrangen, umso weniger war mir nach Rückkehr. Im Wald gab es kaum Schubladen, vielleicht, weil es keine Möbel gab. Falls wir überhaupt Schubladen hatten, dann waren sie flach, und man konnte jederzeit raussteigen, wenn man wollte. Heute doof sein und morgen klug. Heute hübsch und morgen hässlich. Heute zwölf und morgen achtzehn. Ich war hier nicht verpflichtet, so zu sein, wie ich sonst war. Ich war Wetter, Tageszeit und Nahrung. Ich war Reaktion und Müdigkeit. Insgesamt war ich mehr alles drum herum als innen drin. Das war sehr schön so.
Unsere Charaktereigenschaften zeigten sich an unseren Taten. Wer stark war, hob mehr hoch als wer anders. Wer cool war, schrie nicht rum. Hier gab es keine Behauptungen, nur Beweise.
Anuschka erzählt ihnen von der Winselmutter, die in der Gegend umhergeistern soll, doch im Übrigen sind die ehemaligen Bergbaustollen, die es dort überall gibt, schon unheimlich genug und enthalten noch immer Spuren eines Verbrechens, das sich zu DDR-Zeiten hier abgespielt hat. Außerdem werden sie auf geheimnisvolle Art mit Nahrung und Hundefutter versorgt, und anfangs ohne ihr Wissen hält die Fahndung nach ihnen das ganze Land in Atem. Dann kommen natürlich noch Jungs ins Spiel, drei um genau zu sein, die alles wie üblich auf den Kopf stellen, und von denen lange nicht klar ist, ob sie Freund oder Feind sind. Für Gefühlsverwirrungen sorgt einer von ihnen bei Charly auf jeden Fall.
Völlig zurecht wurde „Mädchenmeute“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpries 2016 ausgezeichnet: Kirsten Fuchs hat einen wunderbaren Erzählton für Charly gefunden, sehr bildhaft und nah am Leben, der neben der spannenden Handlung Hauptgrund dafür ist, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Außerdem wurde es höchste Zeit, dass endlich einmal Mädchen die Wildnis für sich erobern dürfen, und trotz der erwähnten Jungs hat man nie das Gefühl, das sie einen männlichen „Retter“ oder dergleichen brauchen würden, wie vor allem Bea und Charly am Ende auch noch einmal sehr schön beweisen.
Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass die Autorin selbst und exklusiv über den Entstehungsprozess ihres Buch und alle nachfolgenden Aktivitäten (Lesereisen, Auszeichnungen usw.) gebloggt hat: http://maedchenmeute-derroman.blogspot.de/. Sogar einen Trailer und gestrichene Kapitel/Szenen findet man dort. Ein interessanter Einblick in das Arbeiten und Erleben eines Schriftstellers!