Lieblingsbücher

Edith Wharton – The Age of Innocence

Die amerikanische Schriftstellerin Edith Wharton war 2014 eine sehr beglückende Neuentdeckung für mich. Gleich der erste Roman, den ich von ihr las, „The Age of Innocence“, begeisterte mich so, dass sie seitdem zu den Autoren zählt, die ich mir ab und zu als besonderen Leckerbissen „gönne“, wie Dickens, Hardy oder Eliot, wohl wissend, dass die Zahl ihrer Werke nicht unendlich ist. Außerdem schwingt immer die Angst mit, einmal einen richtigen Reinfall zu erleben, was mir glücklicherweise aber noch nicht passiert ist, auch wenn es natürlich stärkere und schwächere Bücher meiner „Säulenheiligen“ gibt.

Die aus einer wohlhabenden New Yorker Familie stammende Wharton war eine für ihre Zeit ungewöhnlich starke und selbstbestimmte Frau, die sich gegen die gesellschaftlichen Zwänge der amerikanischen High Society auflehnte, sich von ihrem Mann scheiden ließ und einige Zeit lang allein in Paris lebte, auch noch nach Ausbruch des 1. Weltkriegs, wo sie für Flüchtlinge, Verletzte, Arbeitslose und anderen Hilfsbedürftige praktische Unterstützung leistete. Dieses Leben eröffnete ihr ganz neue Blickwinkel auf ihre Zeitgenossen, die sie dann in kritischen Gesellschaftsromanen wie „The House of Mirth“ und eben „The Age of Innocence“ (für das Wharton 1921 den Pulitzerpreis erhielt) verarbeitete.

51ft3bgzl6l-_sx323_bo1204203200_

Quelle: amazon.de

Der Roman spielt in den 1870ern, ist also in Whartons Kindheitsjahren angesiedelt, es ist eine Art Rückblick auf eine vergangene Epoche, deren Ende die Autorin miterlebte, wenn auch vermutlich nicht bedauerte. Vermutlich konnte sie nur mit dem Abstand von 50 Jahren eine solche Geschichte schreiben über die vorgebliche „Zeit der Unschuld“. Eine solche sollte es zumindest für die unverheirateten Damen der oberen Schichten sein – dass die Herren in weltlichen Dingen meist erfahrener waren, wurde stillschweigend hingenommen. Und oftmals wünschten sich diese als Braut sogar ein „reines“, wohlbehütetes Mädchen, das nichts mit den billigen Lebedamen gemein hatte, mit denen sie sonst möglicherweise verkehrten. So geht es auch dem jungen Anwalt Newland Archer, der kurz vor der Hochzeit mit der reizenden May steht. Sie ist die perfekte Braut, für ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter hinreichend erzogen. Sonstige Bildung oder Erfahrungen sind da nicht vorgesehen und auch nicht erwünscht. Somit ist May das glatte Gegenteil ihrer älteren Cousine Ellen Olanska, die zu Beginn des Romans zurück aus Europa nach New York kehrt – skandalumwittert, lebt sie doch in Trennung und plant die Scheidung von ihrem Ehemann, einem dubiosen polnischen Grafen. Ihre zweifelhafte Reputation wirkt gleichzeitig abschreckend und faszinierend auf Archer, der von Seiten ihrer Familie verhindern soll, dass Ellen wirklich die Scheidung vollzieht. Dies gelingt ihm, doch durch ihre Treffen und Gespräche stellt er zunehmend die üblichen Konventionen und Ansichten in Frage, bis hin zu seinen eigenen Hochzeitsplänen und Vorstellungen eines gemeinsamen Lebens mit May.

The case of the Countess Olenska had stirred up old settled convictions and set them drifting dangerously through his mind. His own exclamation: „Women should be free—as free as we are,“ struck to the root of a problem that it was agreed in his world to regard as non-existent. „Nice“ women, however wronged, would never claim the kind of freedom he meant, and generous-minded men like himself were therefore—in the heat of argument—the more chivalrously ready to concede it to them. Such verbal generosities were in fact only a humbugging disguise of the inexorable conventions that tied things together and bound people down to the old pattern. […]ut Newland Archer was too imaginative not to feel that, in his case and May’s, the tie might gall for reasons far less gross and palpable. What could he and she really know of each other, since it was his duty, as a „decent“ fellow, to conceal his past from her, and hers, as a marriageable girl, to have no past to conceal? What if, for some one of the subtler reasons that would tell with both of them, they should tire of each other, misunderstand or irritate each other? He reviewed his friends‘ marriages—the supposedly happy ones—and saw none that answered, even remotely, to the passionate and tender comradeship which he pictured as his permanent relation with May Welland. He perceived that such a picture presupposed, on her part, the experience, the versatility, the freedom of judgment, which she had been carefully trained not to possess; and with a shiver of foreboding he saw his marriage becoming what most of the other marriages about him were: a dull association of material and social interests held together by ignorance on the one side and hypocrisy on the other.

Unaufhaltsam verliebt sich Newland in Gräfin Olenska und seine erste Reaktion ist, May um einen früheren Hochzeitstermin zu bitten, seine zweite, etwas spätere, Ellen seine Liebe zu gestehen und sich mit der Hoffnung zu tragen, sie an Mays Stelle zu ehelichen – schließlich ist es noch nicht zu spät, er ist noch frei und sie möglicherweise bald wieder. Doch das mag Ellen, die die Gegebenheiten viel klarer sieht, sich selbst und ihrer Cousine nicht antun und so findet dann die Hochzeit doch wie geplant statt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Newland kann seine wirkliche Liebe nicht vergessen und ist enttäuscht von Mays oberflächlichem, dem seinen so unähnlichem Wesen. Das gesellschaftliche Leben ödet ihn an. Im Hinterkopf behält er stets die Fluchtmöglichkeit einer Affäre mit Ellen, doch diese will ein solches Dasein nicht, sie erklärt ihm, nur so lange in seiner Nähe zu bleiben, wie sie sich noch in der Öffentlichkeit in die Augen sehen können. „And that’s to be all—for either of us?“ „Well; it IS all, isn’t it?“

Ja, es ist ein trauriges Buch, zumindest für die Romantiker unter uns, die sich so wünschen, dass die Liebenden einfach auf die gesellschaftlichen Schranken pfeifen und einfach ein neues Leben in Europa beginnen. Das hat Newland ernsthaft vor, doch dann kommt ihm das Leben dazwischen, wie das leider oft passiert (May ahnt mehr und ist ihrerseits eine gewieftere Ränkeschmiedin als man annehmen könnte). Und dann bleibt alles beim Alten, bis es zum Schluss nicht mehr lohnt, ein Zurückdrehen der Zeit auch nur zu versuchen, weil das Vergangene wahrhaftiger erscheint als die Gegenwart.

Something he knew he had missed: the flower of life. But he thought of it now as a thing so unattainable and improbable that to have repined would have been like despairing because one had not drawn the first prize in a lottery. There were a hundred million tickets in HIS lottery, and there was only one prize; the chances had been too decidedly against him. When he thought of Ellen Olenska it was abstractly, serenely, as one might think of some imaginary beloved in a book or a picture: she had become the composite vision of all that he had missed.

Vermutlich ist das „enttäuschende“ Ende die realistischere Variante, die vernünftigste auf jeden Fall, denn wirklich glücklich wären Ellen und Newland vermutlich nicht geworden, so ganz außerhalb der Normen ihrer Freunde und Familie. Wie zermürbend das ist, kennt man z. B. aus „Anna Karenina“, das ungefähr zur gleichen Zeit spielt. Doch allein, dass Wharton solche Konflikte thematisiert und offen ausspricht, die aus der Diskrepanz der Erfahrungshorizonte zwischen Männern und Frauen, aus der konservativen Erziehung der Töchter und der herrschenden Doppelmoral herrühren, fand ich großartig und erstaunlich.

Martin-Scorseses-The-Age--007

Quelle: theguardian.com

Michelle Pfeiffer und Daniel Day-Lewis in den Hauptrollen der Romanverfilmung

Das Buch hat durch die opulente und werktreue Verfilmung von Martin Scorsese in den 90ern vermutlich, hoffentlich eine größere Bekanntheit auch in Deutschland erlangt, wo der Name der Autorin weniger geläufig zu sein scheint als beispielsweise der ihres Freunds Henry James. Ihre Themen und Schauplätze sind sich ähnlich und doch vom Stil her sehr unterschiedlich, glücklicherweise, denn mit dem Herrn konnte ich nicht viel anfangen. Zwar war ich von „The House of Mirth“, Whartons literarischem Durchbruch, etwas enttäuscht, doch immerhin geht es tragisch aus und für solche Geschichten habe ich bekanntermaßen eine Schwäche. Eine ähnliche Mischung aus Schicksalshaftigkeit und unterdrückter Leidenschaft, die mich bei „Age of Innocence“ so fesselte, fand ich übrigens auch in „Ethan Frome“ wieder, einem weiteren Meisterwerk Whartons, das ich zu einem späteren Zeitpunkt noch gesondert besprechen möchte.

Werbung