Ich gerate selten an Bücher, bei denen ich mich an manchen Stellen regelrecht überwinden muss, weiterzulesen, weil mich der Inhalt so abstößt. Obwohl meine Ekelgrenze zugegebenermaßen auch sehr niedrig ist und ich keine Vulgärsprache mag. Andererseits wusste ich vorher, worum es in „Der goldene Handschuh“ geht und das Thema übte eine morbide Faszination aus, deshalb hatte ich es bald nach Erscheinen Anfang 2016 auf meine Leseliste gesetzt, als es auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war.

Quelle: spiegel.de
Strunk, der eher durch sein satirisch-komisches Werk (u. a. für das Magazin „Titanic“ und mit dem Roman „Fleisch ist mein Gemüse“) bekannt geworden ist, verarbeitet in seinem Buch die Geschichte des Hamburger Frauenmörders Fritz Honka. Zwischen 1970 und 1975 tötete Honka vier Frauen aus dem Trinkermilieu, die er auf seinen Sauftouren in den Kneipen an der Reeperbahn kennenlernte, u. a. im „Goldenen Handschuh“. Er bot den obdachlosen Frauen an, bei ihm unterzukommen und verlangte im Gegenzug Sex. Im Affekt und Suff kam es dann zu den Tötungsdelikten, die Leichen zerstückelte und versteckte Honka im Folgenden auf dem Dachboden oder in einem kleinen Abstellraum neben seiner Wohnung. Sie wurden von niemandem vermisst und den Geruch schob er auf das Kochen der ausländischen Nachbarn.
Manche sitzen zwanzig, dreißig Stunden hier. Einmal hing einer zwei Tage und Nächte bewegungslos auf seinem Hocker, der war schon tot, wegen des Schichtwechsels hat aber keiner was gemerkt. Gesunder Schlaf, dachten die Leute. In der dritten Nacht war jemand gestürzt und hatte im Fallen den Toten mitgerissen, sonst wäre es wohl erst aufgefallen, wenn ihn die Ratten angenagt hätten. Gestorben und am dritten Tage auferstanden. Legendäre Geschichte das.
Gründer, Chef, Wirt und Inhaber des Lokals «Zum goldenen Handschuh», Hamburger Berg 2, ist der viermalige deutsche und zweimalige Europameister im Leichtgewicht, Herbert Nürnberg. Herbert, der fast jeden Tag persönlich hinter dem Tresen steht, ist eine Attraktion, eine Berühmtheit, allein schon wegen ihm kommen die Leute. Er kann Verrückte, Irre und Wahnsinnige voneinander unterscheiden, einen Schreihals von einem Schläger und einen Dieb von einem Mörder. Er sieht einem an, ob er Geld in der Hosentasche hat oder einen Bellmann. Seit 1962 hat der Handschuh rund um die Uhr geöffnet, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Es gibt einen vorderen und einen hinteren Teil. Hinten sind drei Tische, vorne vier. Rechts vom Eingang steht der L-förmige Tresen. Die Toiletten sind im Keller.
Das ist kein Lokal, in der man freiwillig einen Fuß setzt, wenn man nicht zu dieser Gruppe verwahrloster, bei lebendigem Leib verschimmelnder Trinker gehört, die dort ihr kümmerliches Dasein fristen. Manche von ihnen waren im Knast, andere sind früher auf den Strich gegangen oder waren in der Armee, irgendwann haben sie jedenfalls den Anschluss verloren, zu trinken angefangen, und schlagen sich nun mit Gelegenheitsjobs durch oder leben von einer kleinen Rente.
Und mittendrin „Fiete“, wie Honka im Roman genannt wird, „der kleine, schiefe Mann mit dem eingedrückten Gesicht und den riesigen Händen“. Er hat vom Leben nie eine faire Chance erhalten. Aufgewachsen in einem Leipziger Kinderheit, muss er eine Maurerlehre aufgrund einer Allergie abbrechen. Er flieht in den Westen, wo er bei einem sadistischen Bauern landet, der sein versuchtes Entkommen „bestraft“, indem er ihn absichtlich mit dem Traktor anfährt, wovon Fiete lebenslange Schäden davonträgt, die verhindern, dass er einer geregelten Arbeit nachgehen kann. Er heiratet, doch die Ehe zerbricht am Suff. Außerdem wird er vor allem im betrunkenen Zustand sehr aggressiv und hat sexuelle Gewaltfantasien, die er bei den ihm gefügigen Frauen auszuleben versucht. Dass diese in der Regel älter und ziemlich heruntergekommen sind, verstärkt seine Wut nur noch. Manchmal stellt er sich vor, er würde aufwachen und neben ihm liege eine Junge, Hübsche. Als er von einer seiner vorübergehenden „Partnerinnen“ erfährt, dass sie eine Tochter hat, versucht er sie zu überreden, dass sie ihm diese zuführt, lässt sie sogar einen Vertrag mit dieser Bedingung (nebst anderen, die sie zu seiner Sklavin machen sollen) unterschreiben. Andererseits fehlt ihm durch den Suff die dauerhafte Energie, bestimmte Pläne in die Tat umzusetzen oder dauerhaft zu verfolgen. Als er eine Stelle als Nachtwächter in einem Betrieb erhält, nimmt er sich vor, nur noch am Wochenende zu trinken und auch sonst ein anständiger Mensch zu werden, der seine Freizeit sinnvoll nutzt – zum Beispiel mit einer Hafenrundfahrt –, doch auch dieser Entschluss hält nicht lange vor.
Doch Strunk porträtiert nicht nur Honka und dessen Umfeld, er begibt sich auch in ein ganz anderes: das des Anwalts Karl von Lützow und der Reederfamilie von Dohren, insbesondere von „WH3“, dem Enkel des Firmenpatriarchen. Lützow und Fiete verbindet, dass sie beide alkoholkrank sind und sadistischen Sex mit wechselnden Frauen haben, doch kann sich der lebensmüde Lützow aufgrund seiner Position besser aussehende Geliebte leisten. WH3 hingegen ist 16 und ständig notgeil, hat aber aufgrund einer Behinderung keine Chance bei den Mädchen seiner Schule, bis sich plötzlich die hübsche Petra für ihn zu interessieren scheint … Am Ende landen sie alle im „Goldenen Handschuh“, jeder auf der Suche nach der Befriedigung seiner Sehnsüchte und Triebe, alle gleichermaßen bemitleidenswert und gleichzeitig abscheueinflößend. Und obwohl nur Honka zum Mörder wird, besteht kein Zweifel, dass die zwei anderen ebenfalls dazu in der Lage wären, aus Verzweiflung, (Selbst-)Hass und gekränktem Ego.
Die sehr plastischen, detaillierten Beschreibungen von körperlichem Verfall, Gewalt und Fietes heruntergekommener Behausung (dreckig und nach Verwesung stinkend, was er mit Raumspray zu überdecken versucht) machen die Lektüre wirklich nicht leicht, aber umso eindringlicher. Man sträubt sich unwillkürlich dagegen, so vertraut mit einem Frauenmörder zu werden, am Ende gar Verständnis für seine Taten aufzubringen, was sicher auch nicht das Anliegen von Strunk ist. Aber kein Mord geschieht aus dem Nichts, solche Taten haben eine lange Geschichte, sowohl vor als auch nach ihrem Geschehen. Fiete schafft es irgendwie, zu verdrängen, dass er Frauen umgebracht hat (was ja ohnehin im Suff geschah), auch wenn sein Wahnsinn langsam überhand nimmt, wobei dabei wohl der Alkohol der Hauptgrund ist. Die Entdeckung der Taten und sein weiteres Schicksal werden in einem kurzen Epilog dargestellt, in dem der literarische Ton wieder in einen nüchtern-sachlichen umschwenkt. Der Leser wird quasi zurück in die Wirklichkeit geholt und daran erinnert, dass diese Geschichte wirklich so oder so ähnlich passiert ist. Die hart an der Realität beschriebenen Charaktere und Milieus sind erschreckend, wenn man damit nie in Berührung gekommen ist.
Die „kultige Kiez-Kneipe“ Zum Goldenen Handschuh hat übrigens immer noch rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr geöffnet.