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September 2017: Friedrich Spielhagen – Problematische Naturen

Dies ist ein weiterer Schatz, über den ich ohne Rolf Vollmanns „Roman-Verführer“ vermutlich nie gestolpert wäre. Und bei dem man sich fragt, wie sowohl Buch als auch Autor so in Vergessenheit geraten konnten. Die Geschichte würde sich ausgezeichnet für eine mehrteilige Verfilmung eignen, denn sie enthält etliches, was sich ein Drehbuchschreiber von Seifenopern nicht besser hätte ausdenken können: Einen anfangs strahlenden Helden, als Liebling aller Frauen in einige romantische Wirren verstrickt und als Bürgerlicher jedem Adligen überlegen; Bürgerliche, die sich als Adelssprösslinge entpuppen und umgekehrt; ein Paar, das füreinander bestimmt ist und nicht zusammenfindet; ein Duell; eine wilde Verfolgungsjagd übers Eis auf ein durchgebranntes Liebespaar; den Tod einer Hauptfigur nach der Hälfte der Handlung; und schließlich eine Revolution mit Barrikadenkämpfen als krönenden Höhenpunkt. An Spannung mangelt es also gewiss nicht, und all dies war sicher ein wesentlicher Grund für den großen Erfolg von „Problematische Naturen“ nach seinem Erscheinen 1860. Er vermischt Trivialliteratur mit einem wunderbaren, facettenreichen Gesellschaftsbild des Vormärz und vermittelt die herrschende Atmosphäre in Deutschland, die sich schließlich in der Revolution von 1848 entlud.

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Quelle: picclick.de

Der erwähnte „strahlende Held“ heißt Dr. Oswald Stein (der Name allein weckt in mir keine romantischen Gefühle, aber das sei dahingestellt), ist Mitte 20 und tritt zu Beginn des Romans eine Stelle als Hauslehrer auf dem Rügener Sitz des Barons von Grenwitz an. Seine Schützlinge heißen Malte und Bruno, wobei ersterer der Erbe des Geschlechts, der andere nur ein verarmter Verwandter ist. Doch gerade Bruno hat dem kränklichen, verhätschelnden Malte viel voraus, er ist wie eine Naturgewalt, stark und wild. Zwischen ihm und Oswald entsteht schnell eine tiefe Vertrautheit, die über das übliche Lehrer-Schüler-Verhältnis weit hinausgeht. Der junge Doktor hasst alle Adligen, etwas, das ihm (wie das Schießen) sein Vater gelehrt hat, bei dem er hauptsächlich aufwuchs – seine Mutter verstarb früh. Oswald steckt voller hoher Ideale und hehrer Ziele, doch am Ende machen ihm stets seine Gefühle einen Strich durch die Rechnung. So geschieht es schon zu Anfang seines Aufenthalts auf dem Gut, als er sich in Melitta von Berkow verliebt, eine Nachbarin der Grenwitzens. Von ihrem Vater zu einer unglücklichen Ehe gedrängt, mit einem Mann, der aufgrund seiner Ausschweifungen geisteskrank geworden ist, führt sie ein trauriges und relativ einsames Leben, sodass es wenig verwundert, dass sie sich bald mit Leib und Seele Oswald hingibt. Doch es gibt einen Konkurrenten um ihre Gunst: Ihren Jugendfreund Baron von Oldenburg, der aus unglücklicher Liebe zu Melitta rastlos durch die Welt zieht. Als er wieder zurück in seine Heimat kommt, wird er von Oswald zunächst misstrauisch beäugt, doch bald wächst zwischen den zwei Männern eine Art Freundschaft, die auf eine Seelenverwandtschaft begründet ist: Sie sind beide „problematische Naturen“.

„Es ist ein Goethescher Ausdruck und kommt in einer Stelle vor, die mir viel zu denken gegeben hat. ›Es gibt problematische Naturen‹, sagt Goethe, ›die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut. Daraus‹, fügt er hinzu, ›entsteht der ungeheure Widerstreit, in dem sich das Leben ohne Genuss verzehrt.‹ – Es ist ein grausiges Wort, denn es spricht in olympischer Ruhe das Todesurteil über eine, besonders in unseren Tagen, weitverbreitete Gattung guter Menschen und schlechter Musikanten.“

Tatsächlich kann Oswald nie lange bei einem Glück verharren: Schon kurz nach Beginn seiner Romanze mit Melitta weckt er, eher ungewollt, die Hoffnungen einer jungen Adligen, die sich daraufhin in glühender Liebe zu ihm verzehrt und sich Hals über Kopf mit einem geckenhaften Nichtsnutz verlobt, als Oswald ihr gegenüber plötzlich kalt reagiert. Außerdem kommt im Laufe des Sommers Maltes ältere Schwester Helene aus der Pension zurück aufs väterliche Gut. Oswald hatte bereits von seinem Mentor und Freund Professor Berger von Helenes Schönheit gehört und auch bei ihm verfehlt sie nicht ihre Wirkung. Helene wiederum soll mit ihrem Cousin Felix verheiratet werden, damit im Todesfall ihres Vaters und ihres Bruders der Adelstitel trotzdem in der Familie bleibt – darauf ist die Frau Baronin ängstlich bedacht. Außerdem gibt es da noch diese ominöse testamentarische Verfügung des vorherigen Barons, dass ein Teil des Eigentums auf sein uneheliches Kind übergehen soll, wenn dieses denn gefunden wird. Die schwangere Geliebte war seinerzeit heimlich weggelaufen, um der Schande zu entgehen… Als der Landvermesser Albert Timm auf dem Gut auftaucht, kommt er diesem Geheimnis bald auf die Spur und betreibt eifrig Spurensuche, um die gewonnenen Informationen zu seinem Vorteil zu nutzen.

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Quelle: de.wikipedia.org

Friedrich Spielhagen ca. zur Zeit der Veröffentlichung von „Problematische Naturen“

Es ist ein breites Gemälde, das uns Spielhagen hier präsentiert, mit sehr vielen Haupt- und Nebencharakteren, die aber allen berechtigten Platz in der Handlung haben und teilweise sogar zur Lösung des Rätsels um den illegitimen Erben beitragen, das einen Hauptstrang des Romans bildet. Insgesamt umfasst das Werk über 1000 Seiten und besteht eigentlich aus zwei Büchern, die im Abstand von zwei Jahren erschienen: „Problematische Naturen“ und „Durch Nacht zum Licht“. Der erste Band endet damit, wie Oswald halb aus eigener Schuld, halb durch unglückliche Umstände (seine Liebe zu Helene lässt ihn ihren vorgesehenen Bräutigam beleidigen, eine Angelegenheit, die unter Ehrenmännern damals nur auf eine Art zu lösen war) und auch infolge eines Schicksalsschlags aus dem Paradies, das Gut Grenwitz einen Sommer lang für ihn gewesen ist, vertrieben wird. Der zweite Band spielt dann im Herbst und Winter in Sundin, worin sich unschwer Strahlsund erkennen lässt, sowie in Berlin, wo Oswald eher zufällig in die Wirren der Revolution gerät, welche aber recht gut zu seinem privaten Chaos passt, nachdem die Flucht mit der verheirateten Geliebten wie vorhersehbar kein Happy-End hat.

In das wilde Allegro von Oswalds jetzigem Leben tönte wie Äolsharfenklänge die Erinnerung an Alles, »was sein einst war;« an seine schwärmerische Jugendzeit, wo rosige Wölkchen den Horizont umsäumten, hinter dem die geheimnis- und wundervolle Zukunft lag; an die seligen Tage von Grenwitz, wo sich für ihn die alte Sage vom Paradiese wiederholen zu wollen schien; an seine Freundschaften mit großen, zum mindesten guten Menschen: mit Berger, Oldenburg, Franz, Bemperlein – wohin, wohin dies Alles? Die Jugend versunken für immer und mit ihr all‘ die holden rosigen Träume der Jugend; aus dem Paradiese nichts geblieben, als der bittere Geschmack der Frucht von dem Baume der Erkenntnis, dass Wankelmut der Seele und treue Liebe nimmer Hand in Hand gehen können.

Im zweiten Buch verliert Oswald durch seine amourösen Verstrickungen allmählich seinen „Heldenstatus“, er sinkt moralisch herab und wird zum bloßen Verführer, der sich zu Handlungen hinreißen lässt, von denen er weiß, dass sie falsch sind. Als Leser steht man da hilflos daneben, man möchte ihn an der Schulter packen und auf den rechten Weg zurückführen. So verschieben sich die Sympathien unwillkürlich in Richtung Oldenburg, der scheinbar seinen Ruf als „Libertin“ pflegt, aber sich in Zeiten der Not als treuer Freund von Melitta erweist, auch wenn ihn ihre Unfähigkeit, seine Gefühle zu erwidern, fast zerreißt. Außerdem ergreift er auf den Berliner Barrikaden die Partei des Volkes, kämpft quasi gegen die Angehörigen seines eigenen Standes, gegen ihre Dünkelhaftigkeit und moralische Verkommenheit. Denn die meisten Adligen zeichnen sich bei Spielhagen durch diese Eigenschaften aus, oder sie sind schwach und kränklich, wie im Fall von Malte von Grenwitz, seinem Vater und dem Cousin Felix, der an Schwindsucht leidet.

Ihnen gegenüber stehen Figuren wie Professor Berger, Oswalds väterlicher Freund und Mentor, der ihm die Stelle als Hauslehrer beschafft und der stets die Fahne der freiheitlichen Rechte hochhält, auch wenn er sich dabei wie der „letzte Mohikaner“ fühlt. Vorübergehend verfällt er dem Wahnsinn und auch er hütet einen finsteren Groll gegen einen Adligen… In diesen Klischees sowie in den Verstrickungen, die sich erst gegen Ende des Buchs allmählich auflösen, und im Pathos, der die Barrikadenkämpfer umweht, hat Spielhagen recht dick aufgetragen, doch störte mich das bei der Lektüre nicht besonders, weil er stets mitreißend erzählt und immer wieder geschickt den Fokus wechselt, sodass man unwillkürlich gefesselt wird. Außerdem macht er die Schwächen wieder wett durch wunderbare Naturbeschreibungen sowie köstliche Szenen aus dem Biedermeier-Bürgertum, das durch eine Möchtegern-Poetin und ihren Gatten repräsentiert wird, die eine schreckliche Demütigung in einem Literaturzirkel erleben.

Je mehr sich die 1078 Seiten ihrem Ende zuneigten, umso merkwürdiger erschien es mir, dass weder Roman und Autor heute noch gelesen werden (außer von Vollmann natürlich, dem anscheinend kein lesenswerter Roman entgangen ist). Er gehört zu denen, von denen man sich wünscht, sie würden nie enden. Die Ausgabe, die ich las, erschien in den 1960er Jahren im DDR-Buchverlag Der Morgen (Spielhagens gegen die Junker gerichteten Ansichten prädestinierten ihn wohl für eine Verlegung im Osten), auf Amazon wird eine Ausgabe von 1923 als Taschenbuch-Reprint angeboten. Allen, die ihn irgendwo antiquarisch findet, kann ich nur zum Kauf raten – er ist ein echtes Kleinod in der ansonsten recht dünnen deutschen Romanlandschaft zur Mitte des 19. Jahrhunderts (zumindest im Vergleich zu anderen Ländern, die uns etliche Klassiker aus dieser Ära hinterlassen haben). Übrigens wurde der Stoff bereits 1912 verfilmt, doch ist anscheinend keine Kopie davon erhalten. Vielleicht sollte man den Verantwortlichem im Film- und Fernsehgeschäft mal einen diskreten Tipp geben …

 

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