Es wurde schon so viel über das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben, dass sich der eine oder andere fragen könnte, ob ein weiteres Buch zu diesem Thema wirklich nötig ist. Zumal manche durch seine Überpräsenz in der Schule und in den Medien sich vielleicht einfach nicht erneut und in dieser Ausführlichkeit, wie sie die fast 1000 Seiten verlangen, damit auseinander setzen will. Aber wer wirklich verstehen möchte, wie etwas Unmenschliches wie die Konzentrationslager der Nazis entstehen konnten und vor allem die Entwicklung von den anfänglich „wilden“ Lagern für vorwiegend politische Gefangene hin zum systematischen Massenmord nachvollziehen sucht, kommt um „KL“ nicht herum, es ist fast sofort nach Erscheinen 2015 zum Standardwerk auf diesem Gebiet geworden, da nun erstmals alle Aspekte der Forschung und aktuelle Erkenntnisse in einer Monografie vereint sind.

Quelle: randomhouse.de
In seiner Danksagung wendet sich der Autor u. a. an seine Familie, die ihm während der langjährigen Recherche und des Schreiben Kraft gegeben und gezeigt hätten, dass das Leben auch schöne Seiten hat, was man bei intensiver Beschäftigung mit den Nazi-Gräueln leicht vergessen kann. Die Lektüre ist keine angenehme; manchmal muss man sich dazu durchringen, weiterzulesen und ich suchte mir dafür auch noch den November aus, wahrscheinlich den denkbar schlechtesten Monat.
„KL“, so die offizielle Nazi-Abkürzung für „Konzentrationslager“, beschäftigt sich intensiv mit den verschiedenen Perioden ihrer Existenz. Entstanden die ersten Lager noch zahlreich und quasi spontan, um die massenhaft Verhafteten nach der Machtübernahme Hitlers Anfang 1933 zu internieren, ging man im Laufe der Zeit immer sogfältiger und routinierter bei Auswahl des Geländes und Errichtung der nötigen Struktur vor, nachdem einmal der Verwaltungsapparat stand und die Weisungsbefugnis klar war. Trotzdem war der Entwicklungsweg nie geradlinig oder gar vorgezeichnet, denn wie Wachsmann immer wieder verdeutlicht, sah es zu mehren Zeitpunkten so aus, als würden die Lager völlig aufgelöst werden. Die Zahl der Inhaftierten schwankte stark, Mitte der 30er war sie jedoch auf einem Tiefststand von ca. 5000 angelangt. Auch der Haftgrund änderte sich, die „Politischen“ rückten in den Hintergrund, stattdessen versuchte man, die Volksgemeinschaft von allem „Undeutschen“ zu bereinigen (Sinti und Roma, Homosexuelle, sogen. Asoziale, Zeugen Jehovas). Erst nach den Novemberprogromen wurden Juden zur zahlenmäßig größten Gruppe. Mit Ausbruch des Krieges schließlich nahmen die Lager immer größere Ausmaße an, bis ein riesiges Netzwerk aus Haupt- und Nebenlagern bestand. Die reinen Vernichtungslager wie Treblinka oder Sobibor werden übrigens weitestgehend ausgeklammert, weil ihr Zweck und Betrieb sich stark von den anderen, vorrangig der Zwangsarbeit dienenden Lager unterschied. Die planmäßige Tötung war zuvor schon hinreichend im Rahmen der Aktion T4 an geistig und körperlich Behinderten getestet worden, sowie in verschiedenen Lagern (und erstmals mit Zyklon-B) an sowjetischen Kriegsgefangenen.
Wachsmann bemüht sich, anhand von Einzelschicksalen sowohl von Tätern (unter Berücksicitgung ihres gesellschaftlichen Hintergrunds und der scheinbaren „Normalität“ ihrer Arbeit) als auch Opfern das monströse Geschehen greifbarer zu machen. Trotzdem findet auch er keine wirkliche Antwort auf die Frage, wie Menschen auf diese Weise zu Mördern werden können, nicht selten im Namen einer Pseudowissenschaft wie die verantwortlichen Ärzte hinter T4. Außerdem thematisiert er unter anderem die furchtbaren Entscheidungen, die Lagerinsassen immer wieder treffen mussten, wenn sie z. B. als Kapo zu Handlangern der SS-Wachmannschaften wurden – wie „freiwillig“ übernahm man solche Aufgaben? Wie viel Selbstlosigkeit durfte man sich überhaupt erlauben, wenn man überleben wollte, welche Rolle spielten Glück und Zufall dabei? Auch diese Fragen tragen teilweise zum Unbehagen während der Lektüre bei.
Für mich war das Buch Ausgangspunkt, mich noch einmal ausführlicher mit einigen Aspekten zu beschäftigen, so las ich anschließend Niklas Franks Abrechnung mit dem eigenen Vater, dem Generalgouverneur des besetzten Polen, sowie einige Protokolle des Auschwitz-Prozesses, die z. T. online verfügbar sind. Ich habe immer wieder Phasen, in denen ich mich fast obsessiv mit dem Thema beschäftige, als wäre die Auseinandersetzung damit die einzige Art, das diffuse Gefühl der „Erbschuld“ zu bekämpfen, das für mich als Deutsche nie ganz verschwinden wird.