Ein Buch - mehrere Monate

Fjodor M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow

2006 war mein Dostojewski-Jahr: Nachdem ich im Mai in nur vier Tagen „Schuld und Sühne“ durchgeackert hatte, war im Herbst sein letztes Werk, „Die Brüder Karamasow“, dran, das meine Bibliothek als zweibändige Ausgabe hatte. Wie im erst genannten Roman steht auch hier im Mittelpunkt ein Verbrechen, das jedoch von zahlreichen anderen Konflikten und philosophischen Betrachtungen überlagert wird.

Die titelgebenden Brüder heißen Dmitri, Iwan und Alexei („Aljoscha“ genannt) und könnten unterschiedlicher nicht sein. Dmitri, der Älteste, führt als Soldat ein ausschweifendes Leben und neigt wie sein Vater Fjodor Pawlowitsch zu Zornesausbrüchen oder impulsivem Verhalten. Iwan dagegen ist Intellektueller und Philosoph, der von den Ideen des Nihilismus und Atheismus beeinflusst ist. Das Nesthäkchen Aljoscha schließlich lebt in einem Kloster des Starez Sossima, der ihm Lehrmeister und Vaterfigur ist, und versucht sich als christlicher Mittler in den verschiedenen Streitfällen in seiner Familie. Schließlich lebt im Haushalt des Vaters noch als Diener dessen mutmaßlich unehelicher Sohn Smerdjakow, ein verschlossener und mürrischer Charakter; seine taubstumme Mutter starb bei der Geburt.

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Quelle: dixiemania.com/Deutsches Filmmuseum

Yul Brynner als Dmitri und Maria Schell als Gruschenka in der Verfilmung von 1958

Der Streit zwischen dem Vater und Dmitri um das Erbe soll von Starez Sossima geschlcihtet werden, doch unterschwellig gibt es noch einen weiteren Konflikt: Beide sind in die schöne Gruschenka verliebt, die ihrerseits diese Aufmerksamkeit genießt und mit den Gefühlen ihrer Verehrer spielt, als eine Art Rache für vergangenes Unrecht, das sie wiederum durch Männer erleiden musste. Auch an dem „reinen“ Aljoscha probt sie ihre Verführungskünste, doch entsteht bei ihnen allmählich eine Freundschaft, die zu einer moralischen Besserung Gruschenkas führen. Dmitris Eifersucht auf den Vater und seine Geldnot werden später als sein Motiv für den Mord an Fjodor gewertet, als dieser tot aufgefunden wird. Alle Indizien scheinen gegen ihn zu sprechen: Er verfügt plötzlich über eine größere Summe Geld, während eine solche bei seinem Vater verschwunden ist, er wurde blutverschmiert und mit einem Messingstößel in der Hand gesehen (mit dem er einen Bediensteten des Vaters niederschlug) und war zum Zeitpunkt der Tat der einzige im Haus – neben Smerdjakow, der jedoch gerade einen epileptischen Anfall hatte. Den dramatischen Höhepunkt bildet die Gewichtsverhandlung mit Zeugenvernehmungen und den Reden von Staatsanwalt und Verteidigern In deren Verlauf beschuldigt Iwan Fjodorowitsch den Diener Smerdjakow, der sich mittlerweile das Leben genommen hat, doch aufgrund einer Aussage von Dmitris Verlobten Katerina wird Mitja schließlich für schuldig befunden und zu 20 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt.

In die Handlung eingebettet ist die später auch eigenständig veröffentlichte, berühmte Erzählung vom „Großinquisitor“. Sie wird von Iwan Fjodorowitsch erzählt, der damit seine nihilistische Weltanschauung untermauert. Inhalt ist, dass Jesus zur Zeit der Inquisition zurück auf die Erde kommt und prompt verhaftet wird, weil er durch seine Wunderheilungen das etablierte System der Kirche stört. Jesus steht für den freien Willen des Menschen, sich zwischen Gut und Böse entscheiden zu können (wie er es tat, als ihn der Teufel in Versuchung führte). Die Kirche hingegen hat die Menschen überzeugt, dass sie dieser ihre Freiheit opfern, wodurch sie schlussendlich glücklicher wären.

Sie werden endlich selber einsehen, daß die Freiheit und das Brot, beide zusammen, nicht denkbar sind, denn niemals werden die Menschen das Brot untereinander zu teilen verstehen. Zudem werden sie sich davon überzeugen, daß sie auch darum nicht frei sein können, weil sie kleinmütig, lasterhaft und nichtig sind und voll von Empörung stecken. Du hast ihnen das Himmelsbrot versprochen, aber ich wiederhole: kann dieses Himmelsbrot sich in den Augen eben dieses schwachen, ewig lasterhaften und ewig undankbaren Geschlechtes mit dem irdischen vergleichen? Und wenn Dir auch im Namen des Himmelsbrotes Tausende und Zehntausende folgen, was geschieht aber mit den Millionen und zehntausend Millionen von Schwachen, die nicht die Kraft haben, das irdische Brot von sich zu weisen und dafür das himmlische zu nehmen? Sprich, sind Dir vielleicht nur die zehntausend Starken und Großen lieb, und sollen die Millionen, die zahllos wie der Sand am Meere und schwach sind, aber Dich lieben, sollen diese nur Stoff sein in der Hand der Großen und Starken? Nein, uns sind auch die Schwachen lieb. Freilich sind sie Sünder und Empörer, aber schließlich werden sie doch den Gehorsam lernen. Und sie werden uns anstaunen und darum für Götter halten, weil wir, nunmehr die Herren, darin eingewilligt haben, die Freiheit, vor der sie zurückgeschreckt sind, auf uns zu nehmen und also die Herrschaft zu führen – so entsetzlich wird es für sie geworden sein, frei zu sein.

Jesus soll als Ketzer auf dem Scheiterjaufen verbrannt werden, doch nachdem er den Vorhaltungen des Großinquisitors schweigend zugehört hat, ist seine einzige Reaktion, diesen zu küssen, worauf dieser ihn gehen lässt.

Die Geschichte ist natürlich ein Affront für Aljoscha, der sich dennoch bemüht, seinen Bruder zurück auf den rechten Weg zu führen. Er nimmt ein wenig die Rolle des naiven „Gottesnarren“ ein, die man öfter in der russichen Literatur findet (Dostojewskis „Idiot“ ist ein gutes Beispiel). Von seinem Starez wird er aus dem Kloster hinaus in die Welt geschickt, um den Menschen durch seine Barmherzigkeit zu helfen. Zuvor hat er eine Art Vision, in der er eine tiefe Liebe zu allem und allen verspürt:

Aljoscha stand und schaute und warf sich plötzlich wie niedergemäht auf die Erde. Er wusste nicht, warum er sie umarmte; er gab sich keine Rechenschaft darüber, warum es ihn so unwiderstehlich verlangte, sie zu küssen. Er küsste sie weinend und schwor in seiner Begeisterung, sie zu lieben, in alle Ewigkeit zu lieben. ›Benetze die Erde mit deinen Freudentränen und liebe diese deine Tränen!‹ So klang es in seiner Seele. Worüber weinte er? Er weinte in seiner hingebungsvollen Freude sogar über diese Sterne, die ihn aus der endlosen Weite anstrahlten und er schämte sich dieser Verzückung nicht. Er hatte das Gefühl, als träfen Fäden von all diesen zahllosen Gotteswelten gleichzeitig in seiner Seele zusammen, als würde sein ganzes Ich von der Berührung mit anderen Welten geradezu körperlich betroffen. Es verlangte ihn, allen alles zu verzeihen, und um Verzeihung zu bitten: nicht für sich, sondern für alle und alles. ›Für mich werden auch andere bitten!‹ klang es wieder in seiner Seele. Doch mit jedem Augenblick fühlte er deutlicher und sozusagen greifbarer, dass etwas seine Seele erfüllte, was so fest und unerschütterlich war wie dieses Himmelsgewölbe. Eine bestimmte Idee übernahm die Herrschaft über seinen Geist, und zwar für sein ganzes Leben und in alle Ewigkeit Er hatte sich auf die Erde geworfen als ein schwacher Jüngling und stand auf als ein für das ganze Leben gefestigter Kämpfer – und er war sich dessen bewusst, sofort, in eben diesem Moment der Verzückung. Und niemals in seinem weiteren Leben konnte Aljoscha diesen Augenblick vergessen. »In jener Stunde hat jemand meine Seele heimgesucht!« sagte er später einmal. Und er glaubte fest an die Wahrheit dieser seiner Worte.

Drei Tage danach trat er aus dem Kloster aus: der Weisung des verstorbenen Starez folgend, der ihm befohlen hatte, in der Welt zu leben.

Ein großer psychologischer (Kriminal-)Roman, dessen Themen wie Mord (und dessen moralische Rechtfertigung), Abkehr von der Religion und Hinwendung zu ihr, Leidenschaften und damit einhergehende Reue schon oft literarisch behandelt wurden und dennoch – oder gerade deswegen – nie an Relevanz verlieren.

 

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