Ein Monat - ein Buch

Juli 2008: Daniel Glattauer – Gut gegen Nordwind

Dieses Buch war seinerzeit, ca. 2007, ein ziemlicher Bestseller und trotz meiner Abneigung gegen solche gab ich ihm eine Chance. Er gibt sich sehr modern, als Briefroman in der elektronischen Welt von heute: Die beiden Protagonisten schreiben sich E-Mails. Nette Idee und der Autor schafft es, einige Klischeeklippen zu umschiffen und die Spannung bis zum Ende hoch zu halten. Mittlerweile gibt es sogar eine Theaterfassung davon, wobei mir nicht ganz klar ist, wie die geschriebenen Texte auf der Bühne umgesetzt werden, aber das Zweipersonenstück findet sich auf Spielplänen in ganz Deutschland, also scheint es zu funktionieren.

 

Heutzutage beginnen viele Beziehungen im Internet und auch eine Affäre ist dank einschlägiger Seiten schnell gefunden. Leo und Emmi sind aber nicht auf der Suche danach und ihre virtuelle Begegnung geschieht ganz zufällig, als eine E-Mail von Emmi zur Kündigung eines Zeitungsabos wegen eines Tippfehlers an die falsche Adresse, eben Leos, gelangt. Er reagiert genervt, weil ihm das schon öfter passiert ist. Einige Zeit später erhält er erneut eine Nachricht von ihr, dieses Mal mit Weihnachtsgrüßen, seine Adresse war in den Verteiler gerutscht.

Liebe Emmi Rothner, wir kennen uns zwar fast noch weniger als überhaupt nicht. Ich danke Ihnen dennoch für Ihre herzliche und überaus originelle Massenmail! Sie müssen wissen: Ich liebe Massenmails an eine Masse, der ich nicht angehöre. Mit freundlichen Grüßen, Leo Leike.

So entspinnt sich allmählich eine Kommunikation, die anfangs oberflächlich, bald aber freundschaftlicher und intimer wird. Sie erfahren private Dinge über den jeweils anderen, diskutieren herzhaft, streiten sich auch mal, aber die Neugier und das Interesse wächst und die Anzahl der täglichen Mails steigt. Natürlich denken sie bald über ein Treffen in der realen Welt nach, weil sie – oh schicksalshafte Wendung – in der gleichen Stadt wohnen, allerdings ist ihre Angst groß, das Bild, das sich jeder von seinem Gegenüber gemacht hat, zu zerstören und enttäuscht zu werden. Ja ja, die kuschelige Anonymität des Internets… Schließlich schlägt Leo vor, dass sie sich beide zur selben Zeit in einem Café einfinden und die übrigen Anwesenden begutachten, ob einer darunter ist, der wie die Person ihrer Vorstellung aussieht. Hinterher tauschen sie sich über ihre Eindrücke aus: Emmi hat „ihren Leo“ nicht erkannt, fand nur einen Mann interessant, der allerdings in weiblicher Begleitung da war. Wie sich herausstellt, waren ausgerechnet diese beiden Leo und seine Schwester. Er hingegen lässt offen, ob er sie erkannt hat. Außerdem ist alles ohnehin nur ein Spiel, ein harmloser Flirt, denn Emmi ist verheiratet und hat Kinder, während Leo noch nicht über die Enttäuschung seiner letzten Beziehung hinweggekommen ist. Also alles ganz harmlos – nur entgleitet ihnen die Sache zusehends, sie werden wichtiger füreinander, entwickeln Fantasien.

1.) Wollen Sie mich persönlich kennenlernen?
2.) Wozu?
3.) Wo soll das hinführen?
4.) Soll Ihr Mann davon wissen?

30 Minuten später
RE:
Zu 1.) Ob ich Sie persönlichen kennenlernen will? Natürlich will ich Sie persönlich kennenlernen. Besser persönlich als unpersönlich, oder?
Zu 2.) Wozu? Das weiß ich erst, wenn wir uns kennengelernt haben.
Zu 3.) Wo es hinführen soll? Dort, wo es hinführt. Würde es nicht dort hinführen, dann soll es auch nicht dort hinführen. Also führt es ohnehin dort hin, wo es hinführen soll.
Zu 4.) Ob mein Mann davon wissen soll? Das weiß ich erst, wenn ich weiß, wo es hingeführt hat.

Emmi bekommt das Gefühl, als würde sie ihren Mann betrügen mit einem „Fremden“, den sie nie gesehen, mit dem sie nie gesprochen hat. Gleichzeitig wird von Leos Seite immer deutlicher, dass er an mehr interessiert ist, sich in seine E-Mail-Konversationspartnerin verliebt hat, auch wenn er das nicht wollte. Nun steht Emmi vor dem großen Dilemma: Soll sie das Abenteuer wagen und dafür ihr Familienglück (das nicht so heil ist, und Leo weiß das) riskieren oder Vernunft walten lassen und der Versuchung widerstehen? Und wie reagiert ihr Mann, als er davon erfährt?

Ebenso zwiegespalten ist der Leser: Natürlich weiß man, dass eine Affäre in der Wirklichkeit aus moralischen Gründen falsch wäre und trotzdem wünscht man sich, dass die beiden, die einem während der Lektüre ans Herz wachsen, zusammen kommen, weil sie sich wirklich zu verstehen scheinen und es zwischen ihnen ein Knistern gibt, das nach mehr schreit.

Schreiben Sie mir, Emmi. Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist Küssen mit dem Kopf.

Ich möchte den Ausgang nicht verraten, aber ich war etwas enttäuscht, um es milde zu formulieren. Dass sich viele Leser eine Fortsetzung wünschten, ist verständlich; ebenso, dass Glattauer angesichts des großen Erfolgs von „Gut gegen Nordwind“ eine schrieb. Sie heißt „Alle sieben Wellen“ und ich habe sie nicht gelesen, weil ich die längste Zeit gar nichts davon wusste. Auch fand ich, dass sich die anfangs reizvolle Idee, eine Geschichte anhand von E-Mails zu erzählen, mit dem ersten Buch erledigt hat (es begründete jedenfalls kein neues Genre des „E-Mail-Romans“); und ich bin Fortsetzungen grundsätzlich eher skeptisch eingestellt, weil sie eben oft genug die Qualität – und erst recht nicht die Originalität – des ersten Teils erreichen. „Gut gegen Nordwind“ ist sehr unterhaltsam (man kommt kaum davon weg), einfallsreich, sprachlich sehr witzig und stellenweise sogar psychologisch tiefgründig. Über „Alle sieben Wellen“ kann ich nichts sagen, die Amazon-Bewertungen sind überwiegend sehr gut, aber wir sind eben alle geborene Romantiker und sehnen uns nach dem glücklichen Ausgang, der uns im Leben allzu oft verwehrt bleibt.

Ich kann heute nicht schlafen. Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal vom Nordwind erzählt? Ich vertrage keinen Nordwind, wenn mein Fenster offen ist.

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