Mit „Der Schatten des Windes“ gelang dem Katalanen Ruiz Zafón ein sensationeller Erfolg, der sich 10 Millionen Mal verkaufte und monatelang ganz oben in den weltweiten Bestsellerlisten zu finden war. Als ich ihn am Jahresende 2006 las, kannte ihn wahrscheinlich schon jeder: Immerhin war er bereits 2004 auf Platz 16 der beliebtesten Bücher der Deutschen gewählt worden. Ob das Ergebnis heute ähnlich aussehen würde, wage ich zu bezweifeln. Es mag vielleicht nicht nur mir so gegangen sein, dass ich den Roman während und kurz nach der Lektüre für grandios hielt – ich schrieb hinterher eine begeisterte Rezension für die Schülerzeitung darüber –, mich aber jetzt kaum noch an den Inhalt erinnere oder was genau mir so gefallen hat. Er ist auf jeden Fall ein guter Schmöker, der das Abenteuer des Lesens feiert, und man lernt einiges über die Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Im Nachhinein bleibt aber wenig Substanzielles, vielleicht so ähnlich wie ich es bei „Nachtzug nach Lissabon“ empfand, ein zur etwa gleichen Zeit ebenso gehyptes Buch.

Quelle: fischerverlage.de
In „Der Schatten des Windes“ treffen die Lebensgeschichten des jungen Daniel Sempere und des Schriftstellers Julián Carax im Barcelona der Nachkriegszeit aufeinander. Die Handlung ist nicht chronologisch aufgebaut und recht verschachtelt, mit mehreren Ebenen. So wird Daniel, Sohn eines Buchhändlers, als Kind von seinem Vater zum legendär-geheimen „Friedhof der vergessenen Bücher“ geführt, wo er sich genau ein Buch aussuchen darf. Seine Wahl fällt, und jetzt kommt schon der erste Dreh, auf „Der Schatten des Windes“, geschrieben von Julián Carax. Über diesen möchte Daniel gern mehr erfahren, stößt aber zunächst auf Granit: anscheinend ist sein Exemplar das einzig noch existierende, alle anderen sollen von einem unheimlichen Fremden verbrannt worden sein. Bei seinen Nachforschungen wird er vom ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter und nunmehrigen Obdachlosen Fermín Romero de Torres unterstützt. Der überraschend elegante und gebildete Fermín wird nicht nur ein enger Freund Daniels, er findet auch Anstellung in der Buchhandlung Sempere und Söhne. Zur gleichen Zeit lernt Daniel die blinde Clara Barceló kennen, die ihren Vater in den Wirren des Bürgerkriegs verloren hat und der er sein Buch schenkt. Sie ist seine erste Liebe, doch wird nichts daraus.
Es vergehen einige Jahre, Daniel wird älter, doch kann er das Buch und den rätselhaft verschwundenen Autor nicht vergessen. Mit der Hilfe von Beatriz, der Schwester von Daniels Freund Tomás, kommt er schließlich einer verbotenen Liebe auf die Spur, die denkbar tragisch endet und dazu führt, dass Carax voller Selbsthass nicht nur sich selbst aus der Welt bringen will, sondern auch versucht, sämtliche seiner Bücher zu verbrennen, wo immer er ihrer habhaft wird. Aber er lebt noch, und Daniel findet ihn zufällig, in einer verlassenen Villa (der „Nebelburg“), die früher der Familie von Juliáns Geliebten gehörte und wohin sich Daniel mit Beatriz, mit der er mittlerweile eine Affäre begonnen hat, flüchtet. Doch nicht nur er ist auf den Spuren des totgeglaubten Schriftstellers: Der brutale Polizeioffizier Fumero, der im Bürgerkrieg etliche Verbrechen auf sich geladen hat, möchte ebenfalls noch eine offene Rechnung begleichen …
Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu dem wir früher oder später zurückkehren werden, egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken, wie viel wir lernen oder vergessen. Für mich werden diese verzauberten Seiten immer diejenigen sein, die ich auf den Gängen des Friedhofs der Vergessenen Bücher fand.
Wie gesagt, im Buch selbst ist die Handlung längst nicht nicht so geradlinig, es gibt viele Kapitel mit Rückblenden auf die Jugend Julián Carax‘, seine Schulzeit und leidenschaftliche Liebe zu Penélope, ihre misslungene gemeinsame Flucht nach Paris und sein verzweifeltes Leben zurück in Barcelona. Diese Stadt spielt ebenfalls keine unbedeutende Rolle im Roman, sie ist wie ein eigener Charakter und nicht umsonst gibt es bereits etliche Zafón-thematische Rundgänge durch die katalanische Hauptstadt.
Trotz der nicht einfachen Thematik und der vielen traurig-trüben Szenen (es scheint immerzu Winter zu sein, kalt und nass und dunkel), wird man unwillkürlich in den Bann der Geschichte gezogen, die einen nicht mehr loslässt. Doch wie gesagt, rückblickend scheint nicht viel davon übrig zu bleiben. Zwei weitere Romane von Ruiz Zafón, „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ drehen sich ebenfalls um den Friedhof der vergessenen Bücher, die Familie Sempere und Fermín Romero de Torres. Ersteren las ich noch mit einiger Begeisterung, der andere enttäuschte und langweilte mich ziemlich. Möglicherweise lag es daran, dass ich allmählich Mühe hatte, all die Charaktere und ihre Schicksale auseinander zu halten. Es gibt tatsächliche und irreführende Parallelen zwischen ihnen, die Figuren haben einen großen Fatalismus und ein Gefühl, das alles vorherbestimmt ist, als könnte es nicht anders geschehen. Erst am Schluss von „Der Schatten des Windes“ wird der teuflische Kreislauf durchbrochen und es gibt ein Happy End – oder vielleicht auch nicht, wie „Der Gefangene des Himmels“ andeutet, aber wie dem auch sein, Zafóns geplantes viertes Buch der Reihe werde ich trotzdem nicht mehr lesen. Jegliches hat seine Zeit, nicht zuletzt die Bücher unseres Lebens, und dieses passte zum Jahresende 2006. Später nicht mehr. Der sprachliche Stil ist allerdings zugegebenermaßen poetisch und lädt zum Zitieren ein, und die folgende Szene ist die einzige, die mir nach all der Zeit im Gedächtnis geblieben ist.
Ich wartete, bis Bea im Haus verschwunden war, und ging dann leichten Schrittes davon, immer wieder zurückschauend. Langsam beschlich mich die absurde Gewissheit, dass alles möglich war, und ich hatte das Gefühl, selbst diese menschenleeren Straßen und der feindliche Wind rochen nach Hoffnung. Als ich zur Plaza der Cataluña kam, sah ich, dass sich in der Mitte ein Taubenschwarm versammelt hatte. Sie ließen keinen Handbreit Boden frei, ein Schleier weißer Flügel, die sich lautlos wiegten. Zuerst wollte ich um sie herumgehen, aber genau in diesem Moment sah ich, dass sich der Schwarm vor mir auftat, ohne aufzufliegen. Ich ging langsam weiter und sah, dass die Tauben hinter mir wieder zusammenrückten. Im Zentrum des Platzes angekommen, hörte ich die Glocken der Kathedrale Mitternacht schlagen. Ich blieb einen Augenblick stehen, mitten in einem Meer silberner Vögel: Das war der merkwürdigste und wunderbarste Tag meines Lebens gewesen.