Ein Buch - mehrere Monate/Ein Monat - ein Buch

Januar 2010: George Eliot – Middlemarch

Mein erstes Buch von George Eliot, und zwei Jahre später würde ich über sie meine Diplomarbeit schreiben (wenn auch über einen anderen Roman). Ich begann, es nach Weihnachten zu lesen und während ich Silvester 2009 in London verbrachte, obwohl ich natürlich erst im folgenden Januar  damit fertig wurde, denn wie die meisten viktorianischen Romane – Gott sei Dank! – ist es schön dick.  „Middlemarch“ ist Eliots berühmtestes Werk und zweifellos auch ihr bestes. Es ist komplex und vielgestaltig, ohne je den Überblick zu verlieren oder zu langweilen, wie Dickens, nur auf dem Lande. Das Schicksal bricht herein, baut Menschen auf und stürzt sie nieder, die Charaktere müssen ihren Weg finden, schmerzliche Erfahrungen machen und oft entpuppt sich das, was man für sein erstrebenswertes Glück hält, nur als leerer Schein.

middlemarch

Quelle: tachyondecay.net

So ergeht es nicht zuletzt Dorothea Brooke, einer der mehreren Hauptfiguren, die alle in der fiktiven Kleinstadt Middlemarch um 1830 herum leben. Dorothea ist eine für ihre Zeit ungewöhnlich gebildete Frau, die sich für alte Sprachen interessiert und aus reinem Idealismus heraus beschließt, den sehr viel älteren Mr Casaubon zu heiraten, um ihn bei seinem großen, philosophisch-geschichtlichen Werk zu helfen. Zu spät merkt sie, dass sie mit dem kaltherzigen Pedanten nicht glücklich werden kann und dass sein Elaborat, an dem er seit Jahren sitzt, zum Scheitern verurteilt ist – kurz, ihr Mann und die Ehe sind alles andere als was sie sich daraus erhoffte. Da hilft es auch nicht, dass sich Dorothea langsam, aber stetig in Casaubons Neffen Will Ladislaw, einen Künstler, verliebt… Auch der junge Arzt Tertius Lydgate hat eheliche Sorgen. Er hat die schöne Rosamond Vincy geheiratet, die verwöhnte Tochter des Bürgermeisters. Sie glaubt, Lydgate könnte ihr zu sozialem Ansehen und einem sorgenfreien Leben verhelfen, doch ihre Verschwendungssucht und geistlose Schönheit kollidieren mit seinen großen Plänen, das Krankenhaus des Ortes zu modernisieren und neue Forschungsergebnisse zu erbringen. Derweil kann sich Rosamonds leicht abgehobener Bruder Fred nicht zwischen einer Karriere in der Kirche und seiner Liebe zu der nicht allzu gut gestellten, aber sehr praktisch veranlagten Mary Garth entscheiden. Und den wohlhabenden und angesehenen Mr Bulstrode holt seine Vergangenheit ein, die nicht nur ihn in den Abgrund zieht (oh Heuchelei), sondern auch Doctor Lydgate, der sich von ihm Geld geliehen hat.

So entfaltet sich dieser Roman auf unvergleichliche Weise, erschafft gleichsam das Abbild der ganzen viktorianischen Gesellschaft in einer kleinen Stadt und wirkt doch nie veraltet, weil die Gefühle und Wünsche, die die Figuren an- und umtreiben, universal sind. Sie betrügen sich selbst, wiegen sich in falscher Sicherheit, schmieden Pläne, die zu Staub verfallen und der Leser kann nur Anteil daran nehmen, mit ihnen zittern und leiden. Es war einer meiner allerschönsten Lesemomente, als Dorothea und Will am Ende doch zueinander finden und heiraten – obwohl Dorothea dadurch laut Testament des verstorbenen Casaubon ihr Erbe verliert.

There was silence. Dorothea’s heart was full of something that she wanted to say, and yet the words were too difficult. She was wholly possessed by them: at that moment debate was mute within her. And it was very hard that she could not say what she wanted to say. Will was looking out of the window angrily. If he would have looked at her and not gone away from her side, she thought everything would have been easier. At last he turned, still resting against the chair, and stretching his hand automatically towards his hat, said with a sort of exasperation, „Good-bye.“

„Oh, I cannot bear it—my heart will break,“ said Dorothea, starting from her seat, the flood of her young passion bearing down all the obstructions which had kept her silent—the great tears rising and falling in an instant: „I don’t mind about poverty—I hate my wealth.“

In an instant Will was close to her and had his arms round her, but she drew her head back and held his away gently that she might go on speaking, her large tear-filled eyes looking at his very simply, while she said in a sobbing childlike way, „We could live quite well on my own fortune—it is too much—seven hundred a-year—I want so little—no new clothes—and I will learn what everything costs.“

Für andere Figuren geht es nicht so glücklich aus, selbst Dorotheas Happy End ist vielleicht nicht so „happy“, wie es mir erschien, denn sie gibt ihre neugewonnene Unabhängigkeit und Träume von einem der Wissenschaft gewidmeten Leben auf, für einen Mann, den sie kaum kennt, in den sie sich eher durch seinen Kontrast zu ihrem Gatten und aus der Ferne verliebt hat. Lydgate bezahlt für seine törichte Heirat, indem er nur noch für Rosamonds materielles Vergnügen arbeitet und alle Forschungsideale begräbt – dieses Leben bringt ihn beizeiten ins Grab, sodass sich seine Witwe einen passenderen Gatten nehmen kann. Allein für die pragmatische, bodenständige Mary und ihren bescheiden gewordenen Fred scheint es eine hoffnungsvolle Zukunft zu geben.

Wenn es eine Moral bei „Middlemarch“ gibt, dann diese: Uneinsichtige Träumer werden bestraft, während die Vernünftigen ein kleines, aber beständiges Glück ernten. Eine Erinnerung der Autorin an sich selbst? Schließlich verhielt sie sich so gar nicht vernünftig, lebte mit einem verheirateten Mann zusammen und behauptete sich als ernstzunehmende Autorin in einer Zeit, als dies längst nicht selbstverständlich war. Obwohl alle ihre Romane großartig sind und es absolut wert sind, gelesen zu werden, bleibt „Middlemarch“ doch ihr berümtestes, ihr Vermächtnis und ein Klassiker, der einen immer wieder beeindruckt.

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3 Kommentare zu “Januar 2010: George Eliot – Middlemarch

  1. Ich bin auf der Suche nach meinem nächsten Thomas Hardy Buch, nachdem ich „Am grünen Rand der Welt“ genossen habe – auf Deiner sehr ermutigenden Leseliste gelandet.
    Ich kenne im „wirklichen Leben“/meinem Alltag keinen einzigen Menschen der mit Deiner Liste was anfangen könnte – ist das nicht tragisch? Ich fühle mich seit ich denken kann wie von einem anderen Stern, weil ich George Elliot, die Brontes, Hardy, Tolstoi, deMaurier, Gaskell mag. Als ich von George Eliot alles gelesen hatte, kam nach dem Hochgefühl des Geniessens wieder das deprimierende Gefühl die unbekannte Auswahl noch weiter eingeschränkt zu haben. Wieviele britische Autoren des 19.Jhd. stehen mir noch zu Verfügung ? Irgendwie fühle ich mich da am meisten verbunden – kann mich intensiv hineinfühlen. Ich habe vor kurzem Stoner von John Williams gelesen und einiges von Susanna Tamaro was nicht schlecht war, aber einfach nicht sooo. Nachdem meine jüngeren Arbeitskollegen „Shades of grey“ etc. lesen und trotz Abitur nicht wissen wer Tolstoi, Hesse, Zweig, Storm, Fontane etc. waren – „wie? — James Austen ?“
    bin ich heute etwas glücklicher geworden von einer so jungen Frau so lesen, die diese Begeisterung für „meine“ Autoren teilt, ihre Freude daran auslebt und sich die enorme Arbeit macht diese Seite zu gestalten. Ein herzliches Dankeschön dafür und weiterhin nie versiegende Leidenschaft für den geschriebenen Gedanken, den in Buchstaben geformten Inhalt der Herzens.

    • Hallo Martina,
      schön, dass mein Blog eine positive Überraschung und Ermutigung für dich war. Ich habe ehrlich gesagt auch schon in vielen anderen Literaturblogs gestöbert und war oft enttäuscht, dass sich meine Genrevorlieben so selten mit denen anderer Leute in meinem Alter decken – andererseits wusste ich das schon immer, war doch stets ich es, die die alten, verstaubten Schinken aus der Bücherei geholt hat (die Bibliothekarin hatte weder von Wilkie Collins noch von W. M. Thackeray je was gehört, was mich nachdrücklich erschütterte – zwei Autoren, die ich dir ans Herz lesen kann).
      George Eliot und Thomas Hardy sind einfach fantastisch, und ich bin froh, sie für mich zu entdeckt zu haben. Ich musste erst mal nachschauen, wie „Am grünen Rand der Welt“ auf Englisch heißt, weil ich die Bücher in der Regel im Original lese – ah, es ist „Far From The Madding Crowd“, darüber werde ich sicher auch einmal schreiben. Als Lesetipp fällt mir noch Anthony Trollope ein, ein Zeitgenosse Dickens‘, seine Geschichten spielen im ländlichen England, sind aber weniger dramatisch als Hardys Romane, mich erinnerten sie ein bisschen an Jane Austen. Auch sind die Charaktere und Handlungen der Bücher der „Chronicles of Barsetshire“ und „Palliser novels“ lose miteinander verwoben, also so ähnlich wie in Balzacs Werk.

  2. Hallo Anne,
    herzlichen Dank für Deine Tipps. Ich beneide jeden der diese Werke in der Originalsprache lesen kann. Wenn ich an Seelenwanderung glauben würde, dann würde ich mich oft für eine frühere Britin halten, der aber leider die Begabung für die Sprache – nicht die Liebe dafür – irgendwie abhanden gekommen sein muß. Das Land übt starke Anziehungskraft auf mich aus.
    Ich habe gerade Adam Bede unter den Lieblingsbüchern entdeckt. Das gehört auch zu meinen Lieblingsbüchern. Es hat mich etwas mehr berührt als Middlemarch. Leider habe ich, nachdem ich die Werke von Eliot durch hatte, deren Biographie von Maletzke gelesen. Dadurch wurde mir Eliots Werk im Nachhinein etwas vergällt. Hatte mir einen anderen Charakter/Wesen hinter diesen Schöpfungen vorgestellt und bin wiedermal hart auf dem Boden der Realität aufgeschlagen. Als nächstes Buch will ich mir „Jude the Obscure“ besorgen, zur deutschen Ausgabe “ Herzen in Aufruhr“ (?!?) kann ich mich nicht überwinden, lieber „Im Dunkeln“, sonst muß ich mich noch als vermeintlcher Pilcher-Fan vor meinem Mann rechtfertigen… Wilkie Collins kenne ich noch nicht, bin aber ausgerechnet ebenfalls heute über ein Rezensionen-Liste nochmal draufgestoßen. Danke für alle die sich solche Mühe machen.

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