Der Mai 2008 war ein Meilenstein in meiner Bibliothekskarriere: Ich meldete mich in der Stadtbücherei meines Studienorts an. Obwohl nicht riesig, war sie doch um einiges größer als die in meiner Heimatstadt und hatte demzufolge verschiedenes im Angebot, wonach ich vorher vergeblich gesucht hatte (wenn es auch dort nicht verfügbar war, musste ich darauf verzichten, bis ich den Weg zur SLUB in Dresden bzw. später in die Münchener Zentralbibliothek fand). Und gleich bei meinem ersten Besuch nahm ich ein Buch nach Hause, was ich schon lange lesen wollte: „Tristram Shandy“ von Laurence Sterne, ein Klassiker des englischen Humors und bahnbrechend in seiner nonkonformistischen Erzähltechnik. Es ist kein Zufall, dass Rolf Vollmanns „Roman-Navigator“ 1759 mit „Tristram Shandy“ beginnt (bzw. endet, er geht ab 1959 zurück in der Zeit) und nicht nur er liebt das Werk, auch Lessing, Goethe, Arno Schmidt und Nietzsche waren Fans. Ich war einfach neugierig, was es damit auf sich hatte und wollte den Roman unbedingt lesen.

Quelle: pixels.com
Witwe Wadman rückt Onkel Toby auf die Pelle
Zugegeben, es gibt einfachere Bücher. In die nicht lineare Erzählweise, wo munter von einem Ereignis zum anderen gesprungen wird und der Erzähler die längste Zeit nicht einmal geboren ist, obwohl die Geschichte von seinem Leben handeln soll, muss man sich erst mal reinfitzen. Von daher ist es auch schwierig, den Plot von „Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“ nachzuerzählen, letztere sind sehr viel stärker vertreten, weil er ständig von seinem eigentlichen Ziel (eben einer Autobiografie) abschweift. Er beginnt mit seiner Zeugung, die offenbar unterbrochen wurde, weil seiner Mutter just in diesem Augenblick in den Sinn kommt, zu fragen, ob der Vater die große Standuhr aufgezogen hat:
Pray my Dear, quoth my mother, have you not forgot to wind up the clock?—Good G..! cried my father, making an exclamation, but taking care to moderate his voice at the same time,—Did ever woman, since the creation of the world, interrupt a man with such a silly question?
Bei seiner Geburt geht ebenfalls einiges schief, nicht nur wird vom Arzt die Nase des Kleinen beschädigt, was zu einer regelrechten Besessenheit des Erzählers mit diesem Körperteil führt, auch ein anderes, intimeres wird leicht beschädigt. Außerdem soll sein Name eigentlich “Trismegistus” lauten, doch vermag die Magd bei der Nottaufe diesen Namen nicht richtig zu übermitteln. Sehr viel mehr als von Tristram, seinen zahlreichen Unglücken und Meinungen zu Nasen, Namen etc. erfährt man über seinen guten Onkel Toby. Dessen liebster Zeitvertreib ist das Nachbauen von Festungsanlagen gemeinsam mit seinem treuen Diener Korporal Trim, wo sie dann auch den Verlauf von früheren und aktuellen Schlachten, an denen sie aufgrund ihrer Verletzung nicht mehr persönlich teilnehmen können, nachspielen, nicht immer mit harmlosen Folgen. Außerdem bemüht er sich redlich um die Witwe Wadman, auch wenn er unter einer großen Peinlichkeit, einer “Verletzung unten herum” leidet (in typisch englischer Manier ist das Buch voller unanständiger Anspielungen und Zweideutigkeiten) und wenig von Frauen weiß bzw. sie im Grunde fürchtet. Aber Onkel Toby ist mit sicherheit einer der liebenswertesten Charaktere der englischen Literatur und es ist nicht verwunderlich, dass Tristram ihn so mag, dass es in seiner eigenen Geschichte mehr um den Onkel als um ihn selbst geht. Und sein “Steckenpferd” (die Bedeutung des Worts im Sinne von “Lieblingsbeschäftigung” wurde erst durch die Romanübersetzung in Deutschland verbreitet) fasziniert ihn ganz besonders:
Now the Hobby-Horse which my uncle Toby always rode upon, was in my opinion an Hobby-Horse well worth giving a description of, if it was only upon the score of his great singularity;—for you might have travelled from York to Dover,—from Dover to Penzance in Cornwall, and from Penzance to York back again, and not have seen such another upon the road; or if you had seen such a one, whatever haste you had been in, you must infallibly have stopp’d to have taken a view of him.
When the town, with its works, was finished, my uncle Toby and the corporal began to run their first parallel—not at random, or any how—but from the same points and distances the allies had begun to run theirs; and regulating their approaches and attacks, by the accounts my uncle Toby received from the daily papers,—they went on, during the whole siege, step by step with the allies.
When the duke of Marlborough made a lodgment,—my uncle Toby made a lodgment too.—And when the face of a bastion was battered down, or a defence ruined,—the corporal took his mattock and did as much,—and so on;—gaining ground, and making themselves masters of the works one after another, till the town fell into their hands.
Mit seinen Erzählsprüngen, mit Absätzen, die wie ein “Bewusstseinsstrom” geschrieben sind oder einer komplett schwarzen Seite nimmt Sterne einige Spielereien der modernen Literatur um 150 Jahre voraus. Der Roman ist chaotisch, ironisch, spielerisch und man muss ihn gelesen haben, um zu verstehen, warum er noch immer so einflussreich und beliebt ist (eine Anleitung zum Lesen gibt es hier). Es gibt eine Art Nachfolgeband, “Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien” (im Englischen allgemein als “Sentimental Journey” bekannt; laut Wiki wurde “empfindsam” als Neologismus durch die Übersetzung geprägt – Sterne hat wirklich unsere Sprache beeinflusst), den ich irgendwann noch lesen möchte. Yorick ist der Pastor, der Tristram tauft und sich später aus gesundheitlichen Gründen auf eine Reise begibt, wo ihm manch wundersames und amüsantes Abenteuer widerfährt. Allgemein wird angenommen, dass er für Sterne selbst steht, der erst mit Mitte 40 sein literarisches Talent entdeckte und seinen Erfolg dann nur kurz genießen konnte, weil er zehn Jahre darauf an Schwindsucht starb. Aber mit “Tristram Shandy” hat er sich seinen Platz in der Weltliteratur gesichert und es war auf jeden Fall eine würdige Wahl, die ich beim ersten Besuch in einer neuen Bibliothek traf.