Ein Buch - mehrere Monate

Simon Garfield: To the Letter / Shaun Usher: Letters of Note

Es gibt etliche Dinge, von denen zu befürchten ist, dass sie unsere Kinder kaum mehr kennen werden, und dazu gehören leider auch handgeschriebene Briefe. Nun gut, wenn man Glück hat, finden sich im Freundes- und Familienkreis noch ein paar Nostalgiker, die hin und wieder zumindest eine Urlaubs- oder Geburtstagkarte schicken, aber wer setzt sich heute noch hin und schreibt einen richtigen Brief, seitenlange Berichte über den aktuellen Seelenzustand, die neuesten Ereignisse, Liebesfreud und -leid, wie es bis vor Kurzem noch weit verbreitet war?! Viele Schriftsteller der Vergangenheit beeindrucken mit einer umfangreichen Korrespondenz, so soll Goethe geschätzt 15.000 Briefe versendet und 21.000 erhalten haben, und bei dieser Zahl muss beachtet werden, dass viele nicht erhalten sind, es tatsächlich also noch mehr sein können. Kein Wunder, dass er die meisten davon an einen Sekretär diktierte statt selber zu schreiben. Zudem waren damals die Portokosten noch vom Empfänger zu tragen, was freilich in Goethes Fall ein Minusgeschäft war.

Auf jeden Fall ist es fraglich, ob es zukünftig noch die Sammlungen von Briefen berühmter Zeitgenossen geben wird, wie sie bislang üblich waren – im besten Fall können wir uns vielleicht über „gesammelte E-Mails“ freuen. Der E-Mail-Roman als Genre hat sich jedenfalls nicht wirklich etablieren können. Natürlich hat es gute und nachvollziehbare Gründe, warum das Briefeschreiben aus der Mode gekommen ist und es ist auch fraglich, ob Goethe ein so eifriger Korrespondent gewesen wäre, hätten ihm die technischen Möglichkeiten von heute zur Verfügung gestanden. Welch ein Kulturgut aber damit verloren geht, verdeutlichen zwei Bücher, die ich vergangenes Jahr las (im Grunde könnte man auch Albrecht Schönes „Der Briefschreiber Goethe“ dazu zählen, doch soll es zu diesem Werk einen separaten Post geben): „Letters of Note“ von Shaun Usher, der 125 bemerkenswerte, anrührende, interessante, lustige Briefe aus verschiedenen Ländern und Epochen zusammengestellt hat, und „To the Letter“ von Simon Garfield, der sich mit der Geschichte des Schriftverkehrs beschäftigt.

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Quelle: lettersofnote.com

Das Buch „Letters of Note“ beruht auf die gleichnamige Website, die 2009 als Blog begann und ein faszinierendes Online-Archiv von schriftlichen Mitteilungen berühmter Persönlichkeiten bietet. Man erfährt zunächst etwas über die Umstände des Schreibens, dann ist das Original abgebildet und schließlich ein Transkript, das im Falle von maschinengeschriebenen Seiten vielleicht nicht nötig wäre, bei handschriftlich verfassten Texten aber auf jeden Fall. Allerdings ist das Transkript bei nicht-englischen Schreiben gleichzeitig die Übersetzung, was ich z. B. bei Beethoven schade fand, dessen Schrift ich nicht entziffern konnte, den ich aber gerne auf Deutsch gelesen hätte – da hilft dann nur die gute alte Wikipedia. Natürlich sollten Leser der deutschen Ausgabe (mit dem schönen Untertitel „Briefe, die die Welt bedeuten“) dieses Problem dann nicht haben oder nur in die andere Richtung, also bei englischen Briefen.

Da der Blog unheimlich viel Zuspruch erlebte, wählte Usher 2013 schließlich 125 Briefe, Telegramme, Faxe und Postkarten aus, um sie in Buchform zu veröffentlichen. Es ist ein schwerer, großformatiger Band (mittlerweile auch als Taschenbuch erhältlich), in dem man unwillkürlich blättert und sich verliert. Die Bandbreite reicht vom letzten Brief Maria Stuarts, den sie vor ihrer Hinrichtung schrieb, über den Rat eines kleinen Mädchens an Abraham Lincoln, er möge sich einen Bart stehen lassen, bis zu einem Rezept von Queen Elizabeth für „Drop Scones“, das sie an Präsident Eisenhower schickte, und einem witzigen Bewerbungsschreiben für eine Stelle als Videospielentwickler. Es finden sich Liebesbriefe, Fan-Briefe, Bekenntnisse und Ratschläge von Eltern an ihre Kinder, Beschreibungen vom Tod eines geliebten Menschen, die Bekanntgabe bahnbrechender Erfindungen, kurz gesagt alle Motive, die Leute dazu bewegt haben, zum Stift zu greifen oder in die Tasten zu hauen. Mittlerweile gibt es vom Herausgeber bereits einen zweites Buch mit noch mehr Briefen, außerdem „Lists of Note“ sowie die Website „Letterheady“ mit bemerkenswerten und originellen Briefköpfen.

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Quelle: amazon.de

Auch Simon Garfield hat sein Interesse für das Briefeschreibens entdeckt und nachdem er sich in seinen Büchern bereits mit Schriftarten („Just My Type“), Landkarten („On the Map“) oder der Farbe Malve beschäftigt hat, zeichnet er in „To The Letter“ die Geschichte der Korrespondenz nach, von den alten Griechen und Römern bis in die Gegenwart – er nennt dies sehr treffend „a journey through a vanishing world“. Dabei beleuchtet er neben berühmten Schreibern wie Seneca, Erasmus von Rotterdam oder Abelard und Heloise, auch die zahlreichen Schwierigkeiten bei der Postzustellung, die in der Vergangenheit zum einen bedeuteten, dass Briefe oft erst nach Wochen und Monaten ankamen – wenn überhaupt – und dass sich nur wohlhabende Leute die Kosten dafür leisten konnten, abgesehen davon, dass die Ärmeren ohnehin meist Analphabeten waren. Das änderte sich erst mit der Einführung von Briefmarken und Briefkästen im 19. Jahrhundert, beispielsweise der „Penny Post“ 1840 in Großbritannien. Der gute Goethe musste noch die Abfahrtszeiten der Postkutschen im Kopf behalten bzw. nachschlagen, wenn er wollte, dass ein Brief nicht allzu lange brauchte. Und die Überbringung in kleinere Dörfer geschah in der Regel durch Dienstboten, Kinder und anderen, die willig und in der Lage waren, den Weg von der Stadt aufs Land zu gehen. In den meisten Fällen war man auf zuverlässige Boten angewiesen in der Hoffnung, dass ein Brief den beabsichtigten Empfänger erreichen würde und nicht zuvor von neugierigen Dritten geöffnet wurde, wie das ja ebenfalls unter vielen Herrschern und in den unterschiedlichsten Zeiten gang und gebe war.

Neben der Geschichte des Postwesens untersucht der Autor außerdem die immer wieder beliebten Ratgeber für das „Schreiben guter Briefe“, stellt das nicht billige Hobby des Briefesammlers vor (bzw. des Auktionsgeschäft mit den Schriftstücken berühmter Persönlichkeiten, was uns indirekt wieder zu Usher bringt) und widmet sich den Anfängen betrügerischer Massenschreiben. Aber das Highlight des Buchs sind zweifellos die zwischen den Kapiteln eingestreuten Briefe zwischen einem britischen Soldaten, der während des 2. Weltkriegs in Nordafrika stationiert war, und einer Freundin in London. Zunächst sind sie nur Bekannte, doch allmählich beginnen sie, einander ihr Herz in dieser schwierigen Zeit zu öffnen und die Briefe werden zunehmend intimer und leidenschaftlicher, als sie sich durch die Korrespondenz ineinander verlieben und es schließlich kaum abwarten können, einander endlich wiederzusehen und ihre gemeinsame Zukunft zu beginnen. Eine ergreifende und wunderbare Geschichte, die die Macht des Briefeschreibens demonstriert und so viele Leser berührte, dass Garfield 2015 eine Ausgabe mit allen Briefen von Chris und Bessie – statt nur einer Auswahl wie in „To The Letter“ – herausgab.

Twenty hours have gone since I last wrote. I have been thinking of you. I shall think of you until I post this, and until you get it. Can you feel, as you read these words, that I am thinking of you now; aglow, alive, alert at the thought that you are in the same world, and by some strange chance loving me.

Ein schöner Nebeneffekt ist übrigens, dass man durch diese zwei Bücher dazu inspiriert wird, mal wieder selbst zu Stift und Papier zu greifen, um dem besten Freund oder dem Onkel, den man lange nicht gesehen hat, ein paar Zeilen zukommen zu lassen. Auf dass uns diese Kunst noch lange erhalten bleiben möge.

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