Ein Monat - ein Buch

Juni 2007: Edgar Allan Poe – Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym

Diese Zeit im Mai/Juni 2007 zähle ich immer zu den bislang schönsten in meinem Leben: der VfB Stuttgart wurde deutscher Meister, ich begab mich zum ersten Mal allein auf Reisen, um – was sonst – ein Konzert zu besuchen, und zwischendurch gab es noch ein paar Abiturprüfungen sowie die anschließenden Feierlichkeiten zu überstehen. Man war jung, die Welt stand uns offen, das Glück war mir hold, so etwas vergisst man nicht.

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Quelle: zvab.com

Was ich allerdings nicht mehr gewusst hätte, ist, dass ich damals (wieder einmal) Edgar Allan Poe las, genauer gesagt, einen Sammelband. Darin hatte ich es besonders auf „Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym“ (im Original „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“) abgesehen, Poes einzigen richtigen Roman, auf den ich wiederum durch „50 Klassiker – Romane vor 1900“ aufmerksam geworden war. Welche Werke ansonsten noch in diesem Poe-Sammelband zu finden waren, kann ich nach 10 Jahren nicht mehr mit Sicherheit sagen, aber der Untertitel „Erzählungen und Skizzen. Reflexionen. Essays und Kritiken“ gibt zumindest einen Hinweis auf den Inhalt. Der Autor war in seinen nur 40 Lebensjahren äußerst produktiv, teils gezwungenermaßen, um auf journalistischem Wege Geld zu verdienen, teils hatte sein Schaffen geradezu manische Züge und sein Genie sowie sein literarischer Einfluss ist unbestritten, auch wenn die Qualität der Erzählungen nicht immer auf dem gleichen hohen Niveau ist (einige ähneln sich auch, so hat er mehrfach über Schiffsbrüchige geschrieben und antizipierte mit erdachten Ballonflügen über den Atlantik oder bis zum Mond sogar Jules Vernes Abenteuergeschichten).

Auch in „Arthur Gordon Pym“ erlebt die Hauptfigur Schiffbruch, und nicht nur einmal. Der junge Mann von der Insel Nantucket an der amerikanischen Ostküste fühlt schon früh die Sehnsucht nach dem Meer. So begibt er sich als Jugendlicher mit seinem Segelboot in große Gefahr und wird in einem Sturm von einem Walfänger überfahren, während sein bester Freund Augustus besoffen und unfähig ist, ihm zu helfen. Obwohl sie gerade so mit dem Leben davon kommen, können die zwei nicht von der Seefahrt lassen und als Pyms Freund auf dem Walfänger Grampus anheuert, schließt er sich ihm heimlich an, indem er sich unter Deck versteckt. Keine gute Idee, denn die dort gelagerten Tranfässer lassen ihn halb ohnmächtig werden, Augustus bringt ihm nicht wie versprochen Proviant und Wasser und überdies darf er sich wegen einer Meuterei auf dem Schiff nicht aus seinem Versteck wagen. Mit vereinten Kräften gelingt es Pym, Augustus und einem anderen Matrosen schließlich, die Meuterer zu überwältigen, doch kaum ist diese Gefahr überstanden, geraten sie in einen entsetzlichen Sturm und müssen hilflos auf dem Wrack herumtreiben, mit fast sicherer Aussicht auf den Tod. Augustus stirbt und ein anderer muss als Nahrung herhalten, bevor die beiden übrigen Überlebenden Pym und der Matrose Peters von einem Segler aufgelesen werden. Doch ist auch diesem kein gutes Los beschieden: Beim Versuch, auf sagenhaften Inseln im Südmeer, wo es angeblich Reichtümer zu holen gibt, Handel zu treiben, werden sie von einem dort lebenden Stamm gefangen genommen. Dies ist wohlgemerkt kurz vor dem Südpol – Poe bedient sich hier der These, dass es hinter dem antarktischen Eisfeld wieder wärmer wird. So erlebt es zumindest Arthur Gordon Pym, der entkommt und zusammen mit Peters und einem Eingeborenen in einem Kanu auf dem offenen Meer immer weiter gen Süden treibt, wo das Wasser bereits zu kochen beginnt und alles weiß zu sein scheint, wie die riesigen Vögel mit ihrem schrecklichen Schrei „Tekeli-li“. Übrigens fürchten die dort ansässigen Eingeborenen alles Weiße, das in ihrer Welt möglicherweise für den Tod bzw. dessen Verkörperung stehen könnte, dessen Anblick sich Pym am Ende seiner Erzählung präsentiert:

21. März: Eine jähe Dunkelheit senkte sich auf uns – doch aus den milchigen Tiefen des Ozeans erhob sich ein leuchtendes Schimmern und glühte am Holzwerk des Bootes empor. Wir wurden unter dem weißen Aschenregen, der sich im Kahne ansammelte, im Wasser jedoch schmolz, fast begraben. Die Höhe der Nebelwand verlor sich in dem Zwielicht der Ferne. Dabei nahten wir uns ihr mit unheimlicher Schnelligkeit. Hin und wieder bemerkten wir, wie sich für Sekunden weite, gähnende Spalten öffneten und aus diesen Spalten, in denen ein Chaos unbestimmter Bilder flackerte, kamen gewaltige, doch schweigende Luftströme, die den glühenden Ozean mit sich fortrissen.

22. März: Die Finsternis hatte sich verdichtet und wurde nur durch den Widerschein der weißen Wand auf dem Wasser ein wenig behoben. Riesenhafte, geisterweiße Vögel kamen beständig aus dem weißen Düster hervor und schossen mit dem ewigen Schrei »Tekeli-li! Tekeli-li!« bei unserem Anblick wieder hinweg. Einmal bewegte sich Nu-Nu ein wenig auf dem Boden des Bootes, zuckte, und als wir ihn anrührten, fanden wir, daß er tot war. Und dann schossen wir in einen Spalt des Kataraktes … schon öffnete sich ein Abgrund, um uns zu empfangen – doch da erhob sich auf unserer Bahn die lakenumhüllte Gestalt eines Mannes, der größer war als je ein Bewohner der Erde – und die Hautfarbe des Mannes hatte die makellose Weiße des Schnees.

(Hier klicken für PDF-Datei der zitierten Übersetzung)

Hier bricht der Bericht plötzlich ab, doch gibt Poe in seinem Nachwort an, dass es Pym – der laut Vorwort zuerst Poe seine Geschichte niederschreiben ließ, bis sich dieser zu große literarische Freiheiten nahm, sodass Pym schließlich selbst den Rest übernahm – zurück nach Amerika schaffte, nur auf welche Weise, bleibt uns verborgen, denn die übrige Niederschrift ging bei dem Unfall, dem er selbst erlag (endlich, möchte man meinen, nachdem er zuvor dem Tod so oft von der Schippe gesprungen war), verloren. Vielleicht fiel Poe auch kein schlüssiges Ende ein und fand es besser, die Handlung an der spannendsten und unheimlichsten Stelle abzubrechen, um den Leser besonders zu quälen, nicht ohne den Verweis auf Mr. Peters, der möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt Aufklärung über die geografischen Gegebenheiten des Südpols geben könnte. Auch wird auf die Bedeutung merkwürdiget Schriftzeichen eingegangen, die die Seefahrer auf der Insel Tsalal fanden, und darauf hingewiesen, dass der Wahrheitsgehalt des Berichts bald durch eine offizielle Expedition geklärt werden würde.

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Quelle: http://www.sffaudio.com

So stellte sich der Zeichner A. D. McCormick den „weißen Riesen“ am Ende der Welt vor

Das offene Ende und die angedeuteten namenlosen Schrecken des Südmeeres lieferten Stoff für verschiedene Autoren, nicht zuletzt für H. P. Lovecraft, in dessen Geschichte „At The Mountains of Madness“ ein Polarforscher schrecklichen Geheimnissen einer vergangenen Zivilisation in dieser unwirtlichen Gegend auf die Spur kommt. Jules Verne versuchte sich sogar an einer Fortsetzung unter dem Titel „Die Eissphinx“. Auch gibt es einige Parallelen zu Melvilles „Moby-Dick“, nicht zuletzt beginnt die Reise der Pequod ausgerechnet in Nantucket (was allerdings aufgrund ihres Status als „Walfang-Hauptstadt“ der Welt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch nicht verwundert). Und dann gibt es noch die seltsame Geschichte um Richard Parker, der auf dem Schiffswrack der Grampus den schicksalshaften Vorschlag macht, einen Todeskandidaten auszulosen, der den anderen dann als Speise und Trank dienen soll. Das Los fällt ausgerechnet auf ihn:

Ich erwachte früh genug wieder aus meiner Ohnmacht, um dem Schluß der Tragödie und dem Tode dessen, der sie hauptsächlich verursacht und nun ihr Opfer wurde, beiwohnen zu müssen. Er leistete nicht den geringsten Widerstand und fiel, als Peters ihn in den Rücken gestochen hatte, sofort tot zu Boden. Die grauenvolle Mahlzeit, die nun folgte, will ich nicht beschreiben. Worte haben nicht die Kraft, ihre unerhörte Abscheulichkeit darzustellen.

Es mag genügen, wenn ich sage, daß wir, nachdem wir an dem Blute des Opfers unsern brennenden Durst gestillt hatten, übereinkamen, die Hände, die Füße und den Kopf abzuschneiden und samt den Eingeweiden in die See zu werfen, und daß wir dann den Körper Stück für Stück während der vier auf immer in mein schauderndes Gedächtnis gegrabenen Tage, dem 17., 18., 19. und 20. Juli, verzehrten.

Die Episode wäre weniger unheimlich, wenn nicht über 40 Jahre nach Erscheinen des Buchs ein Fall von Kannibalismus nach einem Schiffsbruch vor einem britischen Gericht verhandelt wurde (die Angeklagten sahen ihr Verhalten durch die „Gebräuche auf See“ gerechtfertigt). Das Opfer war ein Schiffsjunge namens – Richard Parker. Diesen merkwürdigen Zufall nahm schließlich Yann Martel zum Anlass, in seinem Buch „Life of Pi“ den schiffbrüchigen Tiger ebenfalls Richard Parker zu nennen.

Einige Forscher nehmen an, dass Poe den Roman aufgrund seiner Kündigung bei der Zeitschrift „Southern Literary Messenger“, in der er als Fortsetzungsgeschichte erschien, nicht fertigstellte. Allgemein schrieb er in der Folgezeit wenig und litt unter Armut und mangelndem Erfolg. Allerdings sah er „Arthur Gordon Pym“ sehr wohl als fertiges Werk an, das dann 1838 auch in Buchform erschien, mit dem imposanten Untertitel: „einschließlich den Einzelheiten einer Meuterei und eines fürchterlichen Gemetzels an Bord der amerikanischen Brigg Grampus, auf ihrem Weg in die Süd-Meere, im Monat Juni des Jahres 1827. Mit einem Bericht über die Zurückeroberung des Schiffs durch die Überlebenden; ihren Schiffbruch und nachfolgend das entsetzliche Leiden durch beinahes Verhungern; ihre Errettung durch den britischen Schoner Jane Guy; die kurze Reise dieses letzteren Schiffes im Antarktischen Ozean; seine Kaperung und das Massakrieren seiner Besatzung inmitten einer Inselgruppe auf Höhe des vierundachtzigsten südlichen Breitengrades; zusammen mit den unglaublichen Abenteuern und Entdeckungen noch weiter im Süden, zu denen diese betrübliche Katastrophe geführt hat.“

Ähnlich wie bei einem Klappentext wussten die Leser also ganz genau, worauf sie sich einließen. Zeitgenössische Kritiker störten sich an der übermäßigen Gewalt und dem allgemeinen Eindruck einer „Lügengeschichte“, die hier aufgetischt wird und in der es auch noch viele Unstimmigkeiten gibt. Das Fantastische, Symbolische der Erzählung wurde erst später gerühmt und nach Interpretationen gesucht, so wurde die Reise von Arthur Gordon Pym (dessen Name sogar eine Ähnlichkeit zu dem des Autors aufweist) als Allegorie der Entwicklung von Poe gedeutet, an dessen Ende die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit steht. Dass er dabei auch bei anderen abgekupfert hat – geschenkt:

„Poe ist das Kunststück gelungen, aus einem Roman, der mindestens zu einem Fünftel die Texte anderer Autoren kopiert oder paraphrasiert (wenn man die mehr oder minder deutlichen Spuren hinzuzählt, die weitere Texte in dem Buch hinterlassen haben, kommt man auf ein Drittel), ein durch und durch persönliches Werk zu machen.“ (Zitat aus einer deutschen Neuauflage von 2008, siehe hier, auch zu weiteren Analyse- und Rezeptionsaspekten)

Wie so häufig bei solchen Werken gibt es viel Deutungsspielraum, als normaler Leser darf man es aber getrost auch als spannend-schaurigen Abenteuerroman mit einigen Poe-typischen Merkwürdigkeiten genießen. Und als Wegbereiter und Inspiration für zahlreiche andere Klassiker der Seefahrer- und Fantasy-Literatur.

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